Sonntag, 13. Januar 2008

den hügel hinauf


„la Chanson“

Entnommen und kommentiert aus dem Band „Ursprung und Gegenwart“ von Jean Gebser

Auf Seite 38 unter Punkt 2 eröffnet Gebser die illustre Galerie der perspektivischen Welt, vorgeformt in der Spätantike des Mittelmeeres, abgeformt ca. 1250 n Chr. in der europäischen Kultur.

Erwacht im griechischen Körpergefühl, des Abbildes eines Körpers, erweitert sich die Individualität des Homo Sapiens im ausgehenden Mittelalter um das Ich-Bild. Nicht mehr nur das allgemeine, idealtypische Abbild der Spezies ( z.B. Cäsar) ist jetzt auf Bildern von Malern zu finden, sondern das in der individuellen Vielfalt sich ansiedelnde Ich betritt die Ausstellungsräume der Weltentreppe.

Die ersten tastenden Ausflüge aus der schattenlosen Welt eines in die Fläche vermalten "In den Dingen sein", gelang dem italienischen Maler Giotto. Mit ihm wurde erstmals in der Zivilisation der Städte die räumliche Ausdehnung der Fläche in eine für wahr genommene Tiefe sichtbar. Die Spezies erwacht in diesem Abbild aus der Nacht des unbewussten Schlafes der Dinge, in den sie bislang inseelig im Kollektiv der unerwachten Bretterbühne eingesponnen war.

Sie öffnet die Augen in einer sich in der Ich-Perspektive entäußernden Welt. Die individuelle Besonderheit der Dinge sprießt aus einem sich nach innen dehnenden Standort und reißt plötzlich im Lebensraum sichtbar Tiefe in die äußere Wahrnehmung. Das Ich beginnt sich in lyrischer Leidenschaft in Bildern, Gedichten und Heldentaten in die neu entdeckten Abgründe zwischen Mensch und Natur zu stürzen.

Aus dieser Tiefe lodert die ungeduldige Glut des ewigen Wandels auf und erscheint auf den Bauerngesichtern des Mittelalters als hitziger Einbruch in den glühenden Strom dieses Wandels, die Zeit. Im Jahre 1283 wurde im Palasthof des Westminsters erstmalig eine Uhr öffentlich aufgestellt. Pabst Sabinus hatte diesen öffentlichen Glockenschlag bereits im Jahre 604 befohlen, um den Lauf des Tages in einem verlässlichen Maß zu künden.

In diesem kündenden Maß eilt die Spezies aus dem antiken Himmel in die Perspektive des äußeren Raumes und entwirft in den kommenden Jahrhunderten das Abbild eines nicht endenden wollenden „Gegenüber-Seins“ der Welt, das er fortan festverzinslich mit allen Mitteln in seinen Besitz zu nehmen strebt.

Aus diesem Umbruch innerer Wahrnehmung und äußeren Eroberung der Welt zeichnet ein Brief des Francesco Petrarca Worte, die er im Alter von 32 Jahren 1336 an Dionigi Roberti da Borgo San Sepolcro schrieb. Dieser Brief steht zuvorderst im vierten Buch der Familienchronik und berichtet von Petrarcas Besteigung des Mount-Ventoux.

Der Berg liegt in der Nähe von Avignon, nordöstlich, dort, wo die Rhone die französischen Alpen von dem Hügelland der Cevennen und dem gebirgigen Zentralmassiv Mittelfrankreichs scheidet. Der Mount-Ventoux ist von Avignon aus gesehen ein Berg, der mit klaren und ruhigen Linien breit ausladend in ununterbrochenem Anstieg sein Haupt in den provenzalischen Himmel hebt und abwärtsfließend auf der Norwestseite behütenden Schlaf in Mandelbäumen findet.

Die Landschaft um den Berg des Mount-Ventoux wirft in diesen Tagen des Jahres 1336 erhellenden Farben der gnostischen Tradition der ersten großen französischen Dichtung, „La chanson de Roland“ auf den jungen Augustinermönch Petrarca.

Diese Dichtung der Troubadours ist in den lichten Versen mehr der Welterkenntnis zugeneigt, als einem dem inneren Wissen gegenüber verdunkelnden Glauben.

Im Aufgang und Anblick sowie im Sehen der weiten Landschaft der Bergwelt des Mount-Ventoux wird Petrarca Zeuge einer epochalen Morgendämmerung. Eine von seliger Unschuld gemalter Schönheit zieht in Petrarca den schweren Vorhang beiseite und gewährt ihm in diesen Stunden der Höhe einen Ausblick in eine neue Welt.

„Den höchsten Berg unserer Gegend“, so beginnt Petrarcas Brief, „habe ich gestern bestiegen, nur von dem Verlangen geleitet, die namhafte Höhe des Ortes kennen zu lernen. Durch viele Jahre hindurch war dies in meiner Seele; von Kindheit an habe ich mich nämlich, wie du ja weißt, hier in diesen Gegenden herumgetrieben. Jener Berg, weit und breit sichtbar, stand mir fast allezeit vor Augen. Allmählich ward mein Verlangen ungestüm und ich schritt zur Ausführung, insbesondere nachdem ich tags zuvor beim Lesen der römischen Geschichte im Livius auf jene Stelle gestoßen war, wo Philipp, der König von Mazedonien, … den Berg Haemus in Thessalien besteigt, von dessen Gipfel zwei Meere, das Adriatische und der Pontus Euxinus, sichtbar sein sollen.“ Seite 42

Schon viele vor Petrarca haben Berge bestiegen, allerdings nicht aus ästhetischen Gründen, sondern aus militärisch, administrativen Erwägungen, die dem Auftrag einer Institution oder  Staates folgten.

„In den Schluchten trafen wir (er und sein bruder) einen alten Hirten, der mit vielen Worten versuchte, uns von der Besteigung zurückzuhalten und sagte… er habe niemals davon gehört, dass jemand Ähnliches gewagt habe.“

„Und noch im Aufstieg trieb ich mich selber mit diesen Worten an: Was als heute, beim Besteigen dieses Berges du erfahren hast, das kommt gewisslich dir und vielen zugute, die zu einem glückseligen Leben gelangen wollen…“

Auf dem Gipfel angekommen, überstürzen sich die Ereignisse.

„Erschüttert von dem ungewohnten Winde und von dem weiten und freien Schauspiel, war ich zu allererst wie vor Schreck erstarrt. Ich schaue: Die Wolken lagen unter meinen Füssen… Ich wende meinen Blick italienwärts, wohin sich noch mehr als dieser meine Seele wandte…Ich gestehe, dass ich seufzte, da ich den Himmel Italiens sah, der mehr meinem Geist als meinem Auge erschien, und ein unsagbares Verlangen ergriff mich, meine heimat wieder zu sehen… Und dann ergriff mich ein neuer Gedanke, der mich aus dem Raum in die Zeit trug (a locis traduxit ad tempora) Ich sagte zu mir selber: Zehn Jahre sind es her, dass du die Bologna verließest…“

In dieser inneren Erschütterung flieht der Franziskaner in dem Brief in Worten aus der ersten schuldhaften Begehung der Ausdehnung des Raumes zurück in den Geist und Leib behüteten „Goldgrund der Sieneser Meister“.

Nach dem schuldhaften Bekenntnis Verbotenes gesehen zu haben, fährt der Mönch in der Schilderung des gesehenen Raumes weiter: „Dann wende ich mich gen Westen, vergeblich suche ich den Rücken der Pyrenäen, dieser Grenze zwischen Frankreich und Spanien…Ich sehe die Berge der Lyoneser Provinz zur Rechten, und zur Linken die Fluten des Mittelmeeres, die auf der einen Seite Marseille bespülen und sich an Aiges-Mortes brechen; und obwohl die Entfernung weit war, sahen wir sehr deutlich; die Rhone selbst lag unter unserem Blick…“ Seite 43

Bestürzt von der Schönheit einer sich selbst sehenden Landschaft, sucht der Mönch halt in den Bekenntnissen des Augustinus, wobei ihm eine Zeile zufällt, die aus seiner inneren Heimat aufscheinend seine Schuld aufhebt.

„Gott ist mein Zeuge, und jener der dabei war, (Bruder) dass mein Blick auf folgende Stelle fiel: Und die Menschen gehen die hohen Berge bewundern und die gewaltigen Flüsse und die Unermesslichkeit des Ozeans und die Bahnen der Sterne, und sie geben sich dabei selber auf (et relinquunt se ipsos“. Aufgefahren von dem Ton der inneren Stimme, die in auf dem Gipfel erreicht seelisch erhebt, fährt er fort: „Bestürzung erfasst mich, ich gestehe es, und meinem Bruder, der diese Stelle auch zu lesen wünschte, bittend, mich nicht zu stören, schloss ich das Buch, erzürnt darüber, dass mich auch jetzt noch irdischen Dingen zugewandt hatte, da doch selbst die heidnischen Philosophen es seit langem mich hätten lehren sollen, dass außer der Seele nichts bewunderungswürdiges (des Anschauens wert) sei (nihil praeter animum esse mirabile), und dass im Vergleich mit ihrer Größe nichts groß ist.“ Seite 44

Dem Brief ist nach diesem Bekenntnis ein tiefer Atemzug anzumerken. Überraschend folgen auf dieses Nachsinnen monumentale, die Zeit übersteigende Worte: „Als ich alsdann im Betrachten dieses Berges meine Augen sattsam befriedigt hatte, wandte ich meine inneren Augen in mich selber hinein (in me ipsum interiores oculus reflexi); und von jener Stunde an war es, dass man uns nicht reden hörte…“

Am Ende des Briefes, das Sehende, im "sich sehen" in sich aufhebend, verborgen im seelischen Grund, schreibt er: „Soviel Schweiß und Mühe, damit der Körper dem Himmel um ein kleines näher komme …, etwas ähnliches muss die Seele erschrecken, die sich Gott annähert.“ Seite 44

Von jenem Tag an, so schreibt Gebser in seinem Buch „Ursprung und Gegenwart“, bis zu seinem Lebensende dauert in dem Franziskanermönch Petrarca das Ringen an, das durch den Aufbruch der sehenden Weite seiner Seele in den äußeren Raum ausgelöst wurde.

  ©   by  J. G:

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