„Die Tage verlassen den Sonnenweg,
auf den Sandwegen schwindeln die Odeurs“
Am Samstag fuhr ich musikalisch in den jungen Abendhimmel.
Die staatliche Jugendmusikschule hatte geladen und junge Musiker erhoben mit Notierungen Schuberts, Debussys, Bachs, Chopins, Schostakovitschs, Beethovens, Brahms das Ansehen der Erde.
Die Tochter meines Freundes war vorgesehen für die „drei Phantastischen Tänze“ von Schostakovitsch. Eine atemberaubende Rhythmik, wie sich herausstellen sollte. Nicht fließend, sondern ein aus aufbegehrenden Leibern fassungsloses Meer.
Beim Allegretto stolpert sie, fängt sich aber wieder und spielt den Tanz mit Bravour aus.
Sie, das junge Weib, eine Frühgeburt.
Lebendiges Gemälde, eine Reihe vor mir.
Das Wesen zart, leise, unscheinbar und doch brennend wie ein Scheiterhaufen.
Neben ihr eine langjährige Freundin.
Ein erregend schwarzer Haarschopf wallte über die Lehne des Stuhls und berührte mit glänzend kastanienbraunen Spitzen mein rechtes Knie.
„Zur radioaktiven Materie meines Körpers
habe ich inzwischen ein sehr persönliches,
ja man kann sagen ein intimes Verhältnis, wie zu meinem Hund.
Ich spreche mit ihr
und sie antwortet inzwischen äußerst klug auf diese Anrede.“
Johan van der Leeuwen
Die Netzhaut aber wollte mich.
„Er erzählt darin ganz kurz
von einem kleinen Mädchen in einem Flugzeug,
das eine Puppe neben sich sitzen hat und deren Kopf so dreht,
dass sie den Dichter ansehen kann.“
J.D.- Salinger
Die Sonatina aus dem Actus tragicus „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ konnte an diesem Abend nicht gespielt werden, so die Entschuldigung von Frau Khoteeva, da die Querflötistin eine Erkältung hatte.
„Für den Dichter erweisen sich alle wichtigen Dinge auf dieser Welt – nicht Leben und Tod vielleicht, das sind nur Worte,
sondern die wirklich wichtigen Dinge – als schön.“
J.D. Salinger
Eine Schönheit machte mit „The girl from Ipanema“ den Auftakt.
Leichtsinnig passierten mich die Klaviernoten.
Die jungen Asiaten meistern Bach mit spielerischer Arroganz und mit weißen Söckchen. Seit tausenden von Jahren wischen sie jedes Sandkorn von den Füssen des Kaisers. Viktor Su stolzierte erst nach mehrmaligem Rufen aus dem Foyer quer durch den kleinen Saal zum Steinwayflügel und rotzte wütend das Präludium wie Fuge fis-moll aus dem wohltemperierten Klavier.
Mit seinem Abgang drehte er die Welt für 5 Sekunden rückwärts.
„Es war, als stünde einem auf der anderen Seite des Netzes Mutter Kali gegenüber, vielarmig und grinsend und ohne das geringste Interesse am Ergebnis“
J.D. Salinger
Der helle Konzertraum, halbgefüllt mit Eltern, Freunden und jungen Musikern, trug grelles, blassgelbes Schullicht an Wänden und Decken. Zwei Konzertflügel, einer glänzend, der andere matt, der eine links, der andere rechts von den bestuhlten Reihen, standen sich berührungslos gegenüber.
„Nachmittags trottete Curtis Caulfield mit Seymour und mir zum Central Park, und dort entdeckt ich, dass er den Ball warf, als hätte er zwei linke Hände – kurz gesagt, wie die meisten Mädchen werfen -, und ich sehe jetzt noch Seymours Gesicht vor mir, als ich wie ein Pferd, wie ein Hengst höhnisch wieherte. (Wie kann ich diese tiefenpsychologische Analyse wegerklären? Bin ich zum Feind übergelaufen? Sollte ich eine Praxis aufmachen?“
J.D. Salinger
Debussy ein Sonderling. Freiklassik. Meine verschränkten Arme senkten sich, gingen auf den Schenkeln nieder, gaben den Brustraum der Herzmaterie für die hereinstürmenden Photonen frei.
Huyung-Kyung Yi erquickte die Hörenden, belebte die Eingänge zum kaiserlichen Palast mit Himmelswasser. Mit den Tropfen der Keuschheit wischte sie die verstaubte Aussicht der Erwachsenen frei. Keine Sünde, keinen Tod. Überall nur noch Sonne. Chopin Nr. 15 Sostenuto Des-Dur.
„Denn ich fühle mich, wenn auch mild,
so doch ausreichend verbrannt“
J.D. Salinger
Endlich sie.
Schmal, wütend und allein.
Das Ich in mir senkt den Blick, schließt die Augen.
Totenstille.
Einen Augenblick begehre ich auf, denke. Doch dann entlasse ich die vorlauten Minister.
Schließe die Tore zum Palast.
Äonen keinen Laut.
Welch ein Wunder.
Materie, aus dem Inneren hell erwacht.
Dann das Allegretto.
Schwerelos.
Dann der kleine Fehler.
Sie errötet.
Mit ihm wischt sie im Andante die ersten Silhouetten bewusster Materie in den noch mentallosen Stein.
Ein phantastischer Fehler.
“Lös die Schweiz in dir auf“
M. McIron
Die weiße Spange in ihrem Mondhaar sah ich zuerst.
Dann den Blumenrock, der ihr über die Knie reichte. Die schwarzen Schuhe waren an den Fersen offen. Weiße Söckchen im Kaiserpalast. Bambus im Pazifikwind. Beethoven in den Reisfeldern. Alles im Saal leuchtete heimwärts.
Konzert C Dur op.15. 1. Satz Allegro con brio.
„Sie trug ein gelbes Baumwollkleid, das ich liebte,
weil es zu lang für sie war.“
J.D. Salinger
Unten im Foyer hing eine Ausstellung von ihr und ihr.
„Piano Inside – A Mystical Ride”
© J.G: aus der Erzählung “Schlamm des Lotos”
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen