Samstag, 7. Oktober 2023

kurz nach fünf




Sind die Buchstaben auch noch so feingliedrig geschliffen oder schroff hingeworfen, es bleibt ein unerklärliches Echo der Unvollkommenheit, das offensichtlich an allen Küsten dieser Erde die Spezies durchdringend ermahnt und aufwärts treibt, das diffuse Zwielicht, das in der äußeren Beschriftung der Dinge den Augapfel blendet, mit dem Ohr der mündlichen Überlieferung aufzuheben.


So fragte der Physiker Schrödinger „Was ist Leben“.

 

Eigentlich hätte er eine solch sündhafte Frage in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gar nicht stellen dürfen, wo die bewusstlose Scheidewand in Natur- und Geisteswissenschaften im säkularen Halbfeld der Vermessung der Welt einen solchen akademischen Frevel bei Verlust der Reputation strikt verbot und kategorisch dafür sorgte, dass die blaue Kugel mit ihrer atmosphärischen Garnitur weißer Wölkchen weiterhin im politischen Drahtgitter einer geteilten Welt durchs All driftet.

 

Weh, weh! O unnützer Kadaver !“ Sophokles, Elektra

 

Mit Hilfe der durch den astronomischen Spiegel hinaus ins Freie gelenkten poetischen Anschauung, konnte Sapiens für einen Augenaufschlag der weltgeglaubten Leibeigenschaft entkommen, konnte aus dem kruden Dasein mit seiner Liebsten für eine Umarmung im grünen Heu verschwinden, konnte aus dem mit Blut besudeltem Ablasshandel und von drakonischen Katechismen eskortierten feudalen Stellungsbefehl eines „ora et labora“, aus dieser Fron für eine naive Beugung über den Horizont und einen fassungslosen Blick in den Leib des weiblichen Kosmos desertieren.

 

Für eine halbe Erdumdrehung und einen Sommermorgen konnte das lebende Zwielicht dem gottesfürchtigen Verlies, dem von der Kanzelhöhe erhobenen Wortschwert des sündigen Fleisches, in den strohwarmen, leuchtend dunklen Anbeginn der Welt entfliehen.

 

Alles geschehen in der Ewigkeit eines Glockenschlages, bevor der von den Kanzeln, Kathedern und Feldherrnhügeln in den Dienst genommene Erzengel das kinderzimmergroß geöffnete Tor achtlos zurück ins eiserne Schloss der Untertänigkeit hämmerte und der aus der Erde zu den Sternen hin erhobene Liebesleib wieder zurück kommandiert wurde in den elend lichtlosen Gewinn der Geldfresser.

 

Du tötest dich langsam, ohne das es dir gelingt,

dich von den Leiden zu befreien…“

Sophokles, Ödipus auf Kolonos

 

Der helle Atemzug, der Blick ins Freie, das kindliche Spiel, die Umarmung der Liebenden wurde zurück in die Klöster, Akademien, Schulen und Ämter und post mortem in die schöne Chimäre des Zelluloids, einer kandierten Vorstellung verbannt. Mit römischem Recht gerichtet, in Buchstaben und Zahlen auf den Millimeter und die Sekunde im Evangelium der Arbeit und des Konsums peinlichst genau berechnet, werden die Liebesgaben der Meere und Winde noch immer allesamt in Büchern, Kellern, Museen und Archiven abgelegt, dazu verurteilt, lebenslänglich sich im Schlafe des Unbewussten wie Kasper Hauser mutterseelenallein zu Tode zu wiegen.

 

Dame von c3 auf c4“


©  J. G: 





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