Nach einer Woche der Genesung, viel Schlaf, abends meist Schwarzbrot mit Butter und einem Apfel, viel Tee und Wasser, viel Arbeit im Labor und einem roten Faden vom Indianer, sitze ich im Kaminzimmer bei gedämpftem Licht und versuche mich mit dem Alphabet zu orten.
„An keinem Ort“
Buchstaben wohnen hier nicht.
Links von mir, mit einem kleinen Schwenk des Kopfes, blättern meine analphabetisierten Sinne nichtsnutzig in meinem Bücherregal. Dort, rechts in der Ecke, auf einer Höhe von vielleicht 40 cm, zwischen einem Tagebuch und Shiva Moon, steckt das tibetische Buch vom Leben und Sterben. Vor Jahren habe ich die gebundene Ausgabe von meinem Freund aus Thüringen entliehen. Seit dieser spirituellen Entführung von Thüringen nach Hamburg führt dieses 500 Seiten Werk ein Einsiedlerdasein bei mir. Ein paar Mal habe ich es wohl in der Hand gehalten, doch im Grunde konnte ich damit nie so recht etwas anfangen. Jetzt in dieser Stunde, in diesem schwebenden Zustand „an keinem Ort“ zu sein, greife ich zu diesem Buch und schlage das Kapitel „Das wunscherfüllende Juwel“.
Ich Lese:
„Alles Negative, das wir jemals gedacht oder getan haben, ist letztlich auf unser Greifen nach einem falschen Ich zurückzuführen, das wir hegen und pflegen, … Alle negativen Gedanken, Emotionen, Begierden und Handlungen, …, werden vom Greifen nach einem Ich und von der Selbstsucht erzeugt.“
„Wenn alles Unheil
alle Angst und alles Leiden dieser Welt
vom festhalten an einem Ich herrührt
wozu brauche ich dann noch diesen großen bösen Geist“ Shantideva
In Tibet soll es viele außergewöhnliche Fälle von Selbstheilung gegeben haben, die mit der Aufgabe des Besitzes in einem engen Zusammenhang stehen. So sollen Menschen, die unheilbar krank waren, ihren gesamten Besitz verschenkt haben. Nach dem der persönliche Besitz „hingegeben war“ gingen sie zum Friedhof, um ihren Tod zu erwarten. Dort, am Rande des Lebens, dort, vor den Gräbern begannen sie sich zu lösen von ihrem Ich und dehnten sich voller Mitgefühl in das Leid der Welt aus. Anstatt zu sterben, geschah es manchmal, dass die Sterbewilligen geheilt von ihrer Selbstsucht heimgingen und sich eine Suppe kochten.
„Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang,
Sie träufelt wie des Himmels milder Regen
Zur Erde unter ihr, zwiefach gesegnet,
Sie segnet den, der gibt, und den, der nimmt…“
Porzia in Shakespeares Kaufmann von Venedig
Ich klappe das Buch zu und stelle es wieder an seinen alten Platz.
Tage später lerne ich meine Lektion.
Ich kaufe einen Weihnachtsbaum.
Eine Unterweisung, die es mit jedem Zenkloster aufnehmen kann.
In den kargen Stuben wird den Novizen das Selbst in Reinlichkeit, Achtsamkeit und Mitgefühl gelehrt, nicht nur für das eigene, sondern für alles Leben, dass das ureigene ist.
Ich erinnere mich an eine kleine Geschichte, die ich vor Jahren in einem kleinen, blauen Büchlein gelesen hatte. Ein Novize rennt nach einem Jahr der Meditation freudetrunken über den Flur eines Klosters, klopft am Ende des Flurs an eine Tür, betritt mit einem zufriedenen Gesicht das Zimmer seines Meisters, der seitlich am Fenster steht und hinaus schaut. „Meister“, sagt er ohne abzuwarten, „Meister, jetzt, nach einem Jahr des Sitzens, so wie du es mich gelehrt hast, habe ich des Rätsels Lösung endlich gefunden, endlich weiß ich es.“ Der Meister sah bei den freudig beflügelten Worten des Novizen immer noch aus dem Fenster. Für einen kurzen Moment herrschte Stille im Raum, dann drehte der Meister sich zu seinem Novizen und sagte: „Was für eine Blume steht im Flur auf dem Fensterbrett?“
Ein weiteres Jahr des Sitzens folgte für den Novizen.
So sitze ich im Wintergarten und höre wie Regen auf das Glasdach fällt. In der rechten Hand halte ich meinen grünen Füller, drehe ihn wie eine Gebetskette zwischen Daumen und Zeigefinger endlos hin und her.
Alles was ich bislang gelebt, erdacht und schriftlich verfasst habe, erscheint mir an diesem Regentag im Dezember, einen Tag vor der Jahreswende, wie die Pflichtgebote des Novizen, die die sehnsüchtig erwünschte Aufnahme in den Orden vorbereiten. Die tausend und abertausende Worte der Jahreszeiten, all die silbernen Boote mit ihren glanzvollen Namen, gleiten im flirrenden Licht der großen Wasser dahin. Ich sehe sie kommen, sehe ihren Scherenschnitt, sehe sie fahren. Mit dem Knarzen der Riemen, dem Rufen der Bootsführer, dem Schlagen der Flügel, dem Begehren der Ufer, löst sich die uralte Tinte aus meiner Feder. Der schwarze Jenseitsstrich auf weißen Grund.
Nach ein paar Stunden kehre ich zurück an den Tisch, erinnere das Geschehen aus meinen atmenden Körperzellen, schreibe alles nieder, zeichne in einem hellen Auf und Ab Linien und Striche. In den kommenden Tagen sehe ich die Niederschrift mehrmals an, immer wieder halte ich sie in meinen Händen, bin verwundert über die Fluchtlinien am Horizont des Alphabets, die mir nicht wie geordnete Reihen von Buchstaben vorkommen, sondern wie ein Kassiber, das mir den Plan zum Ausbruch aus meinem Verlies durchreicht.
Nach Tagen nahm ich die Aufzeichnungen abermals vor, um Änderungen vorzunehmen. Dabei sah ich, als ich die Schriftzeichen erneut in den Händen hielt, dass sie mit mir spielten wie Gräser im Garten mit einem Kind. Die Worte, die mir etwas bedeuteten, die den Klang einer silbernen Münze auf einem Marmortisch hatten, entschwanden wie aufsteigender Rauch über einem sibirischen Dorf, und Worte, von denen ich glaubte, sie gäbe es nicht, niemals, sie wären auf ewig meiner Kehle verschlossen, dafür würde ich, auch wenn ich tausend Jahren leben würde, nie eine Silbe in meinem Liebesgrund finden, wurden mir aus dem sich öffnenden Augenlid eines Neugeborenen hellauf zugeworfen.
Licht ist da. Der Tag beginnt."
© by J. G: