Freitag, 25. Februar 2022

II. Brief an einen sterbenden Freund

     27. April 2014


Marie wurde von Ava im Rollstuhl auf die Terrasse geschoben und in ihren neuen Liegestuhl gesetzt. Ava verabschiedete sich und ging mit dem Nachbarn Herrn Rösch auf den Markt. Ich saß sonnenbeschienen auf der Terrasse an meinem Frühstückstisch, trank genussvoll meinen Cafe, legte mir das Rührei auf mein Schinkenbrötchen und lass Marie die Schlagzeilen der Tageszeitung vor.
 

 Die Nachbarn kamen von ihrer Waldtour und riefen über den Zaun, wir kommen auf eine Tasse Cafe kurz rüber. Das sind seltene Momente in den letzten Monaten, von denen ich hoffe, sie werden mehr und hören nicht auf. Es ist wunderbar, solche Nachbarn zu haben.

Wir sprechen nach dem ersten Schluck Cafe über eine mögliche Strahlentherapie für Marie, um den Blutfluss einzudämmen. Der Doktor hat mit einer Kollegin aus einer anderen Klinik gesprochen. Dafür müsste sie noch einmal stationär aufgenommen werden, um die Möglichkeiten der Therapie zu erörtern. Gestern Abend, nach Heimfahrt von Tochter und Enkelkind, ging ich noch rüber zu den Nachbarn, um die Kurzzeitpflege ab Montag zu besprechen. Ich erzählte von meinem Fussgang von Hausnummer 45 zu Hausnummer 47. Ich war traurig, da ich am Tisch meiner Nachbarn hörte, dass Marie sterben wird. Wieder zurück im Wintergarten erzählte ich Marie von meiner Traurigkeit, teilte ihr das Gespräch mit und weinte dabei. Sie weinte mit mir. 

 Am Frühstückstisch sagte ich, dass ich mir schon seit langem angewöhnt hätte keine zwei Währungen mehr auf der Strecke zwischen Kommen und Gehen, zwischen Leben und Sterben auszuzahlen. Täte ich es, hätte ich ein Gefühl der ständigen Selbstverfehlung, die mich umnachtet und mich nur noch als Schatten leben lässt. 

 Marie, mein lieber Freund, sie weiß über alles Bescheid, ich habe ihr alles brühwarm erzählt, auch, dass sie die Bluttransfusion, die wahrscheinlich auf sie in ein paar Wochen wieder zukäme, nicht annehmen müsse. Sie könne auch sagen, das war es für mich, eine schöne Reise hatte ich und ich habe eine schöne Reise erneut vor mir. Sie könne sagen, als bare Münze nehme ich mit, dass ich geliebt bin und mich mit dem jetzigen Zustand einem Punkt nähere, dass auch ich mich selbst lieben kann, nicht obwohl, sondern weil ich so unglaublich hinfällig bin, ich so nah bei mir bin, dass ich die Kostbarkeit, die mich jede Sekunde lichtvoll umarmt, und nach Hause winkt, nicht mehr übersehen kann.

Meiner Nachbarin wirft über den Zaun an diesem Morgen und in dieser Stunde das Arkanum „es ist wie es ist - der Fisch hat Flossen",  das Wort der Fügung, das Stillleben des Gewordenen, die geronnene Zeit, dessen Lichtsatz, jedes zum Leben und Sterben geborene Wesen auf seinem ganz eigenen Zettel zu lesen hat.


J. G: 


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