Freitag, 25. Februar 2022

III. Brief an einen sterbenden Freund

     27. April 2014


Der Doktor erzählte noch, dass er jung an Jahren im Schlachthof in Kiel gearbeitet hätte, in der Häuteabteilung. Da kannte er seine Frau noch nicht. Ich erinnerte meinen literarischen Ziehvater, Herr Hrabal. Er hat eine Geschichte geschrieben, in der er einen Mann mit dem Karren über Land zieht und rufen lässt „Häute, Häute, Häute zu verkaufen!“

 Der Doktor erzählte auch noch von einem 130 kg Mann, der über den Tag verteilt im Schlachthof gut 2 Flaschen Wodka trank, dann auf einem Damenrad den Schlachthof verlies und er ihm nachschauend Angst hatte, das Rad würde sogleich unter seinem kolossalen Schlachtgewicht zusammenbrechen. Er war nicht auf dem Weg nach Hause, wusste der Doktor zu erzählen, sondern er war unterwegs zu seinem Stammtisch.

 Beide brachte ich noch zum Gartentor, da blieb der Doktor auf dem Hacken stehen und erzählte mir noch kurz, seinen leeren Cafe Becher in der Hand, seine Frau links neben ihm stehend, der Hund mit der Leine um den Hals, seine Frau mit dem Teller und ebenfalls leerem Cafe Becher abdrehend, das er damals, Geld verdienend, nach drei Wochen Kohlenschleppen, Hornhaut auf dem Rücken hatte. 

 Macht euch einen schönen Tag, rief ich ihnen nach.

 Den Nachmittag verbrachte ich mit Nichts, rannte rum, wusste nicht, wo ich mein unruhiges ICH hinstellen sollte. Aufs Rad wollte ich nicht, hörte noch dünn die Worte meiner Tochter vom Vortag durch den Telefonhörer, „ruhe dich aus, mache einfach nichts“. 

 Gut beraten machte das Ich dann einfach erfüllend nichts.

Am Nachmittag habe ich Marie einen Eiscafe gemacht, mir selbst einen Eierpfannenkuchen und unserer Mitbewohnerin im 1. Stock einen mit Puderzucker bestreut nach oben gereicht. Ich habe ihr gesagt, dass Marie am Montag in die Kurzzeitpflege kommt. Da hängte sie mir eine weitere Nachricht an mein Wort, dass ihre Freundin ebenfalls Brustkrebs hat und ihr die Brust entfernt wurde. Wieder im Wintergarten erzählte ich das und war erzürnt darüber, dass man diese gottverdammten Hiobsbotschaften derzeit nur so um die Ohren gehauen bekommt.

 Aus jeder Windrichtung, man kann sich drehen wohin man will, richtet der Intendant dieses unheilvollen Theaters zum Lob der Dramaturgie einen grellen Scheinwerfer auf das kleine Leben mit all seinen am Rande der kosmischen Provinz prämierten Niederlagen.

 Ich fragte Marie, ob sie aufs Rad will, sie sagte eindeutig ja. Respekt, sagte ich. Und tatsächlich, sie radelte mit gesengtem Haupt eine ganze Viertelstunde. Ich zog meine dreckige Sporthose und meine alte Sportjacke aus, schmiss sie in die Ecke hinter der Tür und ging unter die Dusche. Völlig unerwartet schien etwas in mir auf, kein Gedanke, ein Empfinden für das Alles hier.

 „Jetzt wird es schön. Da wir wissen, dass wir sterben müssen.“

J. G: 

 

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