Sonntag, 10. Juni 2012

deine hände


„Ich selbst, eine alte Mutter im blütenlosen Gewand, war einstmals eine schöne Frau, voll heller Träume und verbotener Wünsche, voll erfüllter Liebe und sich sehnender Hingabe an die Meere und Küsten, erhellt von den Überfahrten des Lebens, von den Stunden der Liebe erhoben in die glückselige Gewissheit ewigen Ruhmes.

An dem Tag, da ich geliebt wurde, tat sich vor mir eine Welt auf, eine himmlische Weite, die jede Zelle meines irdischen Leibes mit Jubel beschenkte.


Ein zarter Ton bemächtigte sich meines Leibes und erhob mich aus der Sterblichkeit in ein goldenes Feld, das ich seitdem als Liebe erinnere.


An diesem Tag saß ich mit meinem Liebsten auf einer Anhöhe.

Vor mir lag die weite Ebene, ein Sommerhauch.

Mit dem Kuss des Liebsten nahm ich einen Atemzug saphirblauen Meeres, feierte im Niedersinken den Festzug des Logos, umarmte mit beiden Händen das hell pulsierende Seelenfleisch, das unsterbliche Kleinod des Leibes, liebkoste die ins unendlich erhobene Null aus grüner Jade, fühlte endlich im Unendlichen das Aufbrechen des Felsens, nahm den Kuss des Honigmondes an mich, die glückselige Empfängnis, das göttliche Kind, Augenweide meines Schoßes.


Dieser Ruhm, ehemals heller Glanz und Thron meines Daseins, Morgenrot meiner Seele, entschwand aus meinen Tagen, floh aus meinem Lebensbild, wandelte sich im tränenreichen Verlust zur mich niederbrennenden Heimsuchung.


Im Schlachtenlärm des Überlebens verblasste die Erinnerung an diesen Tag und der Leib des Wortes legte sich im Verborgenen ins Unerhörte selbstvergessen nieder. Mit keinem anderen Erlebnis, mit keiner Umarmung, keinem materiellen Besitz, mit keinem heimlichen Liebhaber, mit keinem tötenden Gedanken an mir selbst, konnte ich das Ereignis in mir erneut beleben.


So kam ich in den Wochen, Monaten und Jahren danach nicht umhin diese Liebe als sinnloses Treiben einer wahnwitzigen Idee anzusehen, die mich im Blitzlichtgewitter des Dünkels auf den Gipfel der Einbildung gesetzt hatte.


Eine Tragödie der Königinmutter, die in mir seitdem flüsternd wuchert und meinen Liebesleib in einen ketzerischen Kadaver hexte, ein Leichnam, der in sterblichem Gehorsam mit keinen anderen Gedanken ausgestattet ist, als Rache zu nehmen, Rache zu nehmen an all den Jungfrauen, die mit ihrem Liebsten an mir vorbei zur Anhöhe wandern.


Der Grimm, der mir seitdem mit jedem Wort bitter aus meinem Munde eitert, sich mit einem ganzen Regiment von Hohn in Widerhaken ins junge Fleisch wirft, will das junge Leben irrsinnig warnen, nicht hereinzufallen auf das absurde Hirngespinst, das mich seit jenem Tage um den Verstand bringt.


Heute nun, in dieser frühen Stunde, mit dem Fallen des ersten Schnees, wurde dieser nachtschwarze Schleier von mir genommen. Dafür der Dank an dich, meine geliebte Tochter.“  

© by J. G: 

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