Bevor ich mich auf dem Heimweg machte, sah ich noch durch einen Türspalt, die Große, bald 13 Jahre, mit Wattepads in der Hand im Badezimmer vor dem Spiegel stehen.
Reifezeit.
Auf dem Weg heim hörte ich zur späten Mitternachtsstunde im Radio Deutschlandfunk.
Vor einer roten Ampel eine Tonbandaufzeichnung mit einem Satz eines italienischen Schriftstellers, „warum schreiben wir?
Ampel auf Grün.
Die Fahrt geht weiter.
Fragen.
"Ist es die Angst vor dem Tod, das ist möglich, oder ist es, weil man Angst vor dem Leben hat, auch das ist möglich.“
Das langsame Fahren durch die Nacht auf den Straßen der Großstadt, umgeben von blendenden Autoscheinwerfern und stillen Laternen, führte mich in eine Zeit, die mir soweit Gedanken reichen, unerschlossen blieb.
Die Zeit vor meiner Geburt.
Jetzt, wo ich diese Zeilen vor meinem offenen Fenster niederschreibe, sehe ich mich verwundert, dass dieses Gewölbe mich umgibt.
Das Ohr hört durch Nacht.
Eine Stunde, von einem Ort in der Stadt zu einem anderen.
Ungeboren.
Traumschlafend im Mutterleib.
Noch nicht Ich, mehr Selbst in Allem.
Umhüllt von den Fluten des alleinigen Wortes der Liebenden.
Schoß der Welt.
Während der Nachtfahrt schwimmen Fragen um mich herum.
Es sind Fische mit allwissenden Augen, die den Kelpwald als ihr Zuhause und das Meer seit Urzeiten als ihre Heimat kennen.
Unerhörte Nähe.
Mit den gewohnten Sinnen keinen Zugang.
Hören.
Wahrnehmen.
Ich fahre durch eine Baustelle.
Der italienische Schriftsteller fragte weiter.
Schreibt man, weil man Sehnsucht nach der Kindheit hat, weil die Zeit zu schnell vergangen ist, oder weil die Zeit zu schnell vergeht, und wir sie gerne aufhalten würden, damit sie langsamer vergeht? Schreibt man aus Bedauern, weil man Bestimmtes gern getan hätte oder hat, oder schreibt man aus Reue, weil man Bestimmtes nicht hätte tun sollen und es doch getan hat?
Vor meiner Wohnung am Rande der Stadt halte ich an, parke das Auto auf dem Standstreifen.
Anhalten der Zeit.
Vakuum.
Keine Zeit.
Kein Raum.
Nicht dunkel, nicht hell.
Ein Riesenreich im Sound flüsternder Atome.
Das Überall.
Die Welt steht still und rast gleichsam dahin.
Jetzt, Tage danach, habe ich noch einmal hineingehört in den literarischen Gesang des Fado von Tabucchi, wie in dem „Brief an den Wind“.
„Am Späten Nachmittag bin ich auf dieser Insel an Land gegangen. Vom Fährboot aus sah ich wie der kleine Hafen immer näherkam, mit dem kleinen Städtchen unterhalb der venezianischen Festung. Und ich dachte, vielleicht ist es hier. Und während ich die Stufen in den Gässchen hinaufstieg, auf denen man bis zum Turm gelangt, mit dem Gepäck, das jeden Tag leichter wird, sagte ich bei jeder Stude aufs neu, vielleicht ist es hier.“
Tage danach schwimmen die Silben zu ihrem Laichplatz.
Umarmung.
Bemalung des Gewölbes.
9 Tage später.
Warum schreibe ich?
„...empfinden…“
Seit Jahren ein archäologischer Tauchgang.
Freilegen eines Bildes, bedeckt vom Staub der lebenden Toten.
Dort, in der Anhöhe der Tiefsee, verschwommen, eine Scherbe, ein Stück gebrannter Lehm.
Auf dem zerbrochenen Kleinod auszumachen, Striche, Zeichen.
Hinweise.
Auftauchen.
Atemnot.
Schaue auf meine Schritte in den Zeitsekunden.
Ende der 70ger Jahre ereignete sich, dass ich Erzählungen von J. D. Salinger in die Hand bekam. Dort las ich jung kleine Geschichten über Seymour Glass.
Ich war berührt von diesen Erzählungen, besonders von dem Hauptdarsteller der Geschichten, der sich so gar nicht in die damalige amerikanische Gesellschaft einfügen konnte und wollte.
Er hatte einen Hang sich in den Umgangsformen mit seiner Familie, Hochzeitsgesellschaften, Kindern, auch in den Äußerungen gegenüber seiner Schwiegermutter, sich so ins Benehmen zu setzen, das er in jeder Beziehung als Sonderling angesehen wurde. Seine aus der Zeit gefallene Persönlichkeit bediente sich u.a. aus fernöstlichen Buchseiten.
Seymour weckte in mir, von dem ich nicht wusste, dass es mich bereits kannte.
Wie von Geisterhand gelenkt, ich war fasziniert von dieser literarischen Figur, sah ich mich eines schönen Tages auf dem Weg in die Buchhandlung der Kleinstadt und verlangte nach chinesischer Lyrik.
Ich, ein Handwerker von gerade mal 20 Jahren.
Doch das ist nicht alles.
Erst viel später las ich die Erzählung „Ein herrlicher Tag für Bananenfisch“, in der Salinger seinen buddhistischen Helden, Seymour Glass, im Beisein seiner Frau Muriel, in einem Hotel am Meer, Selbstmord begehen lässt.
Hier stand etwas früh auf in mir auf.
Das konnte ich in keinem Fall hinnehmen.
Wer ruft da?
Begeht ein Buddha Suizid?
Woher kam der Ruf?
Es ist nur eine kleine Geschichte von einem Amerikaner nach dem 2. Weltkrieg.
Eine kleine Geschichte von Tausenden, die auf blütenweißen Asphalt fallen.
Setze meine Schritte im Sand der Zeit.
Mache Striche und Punkte auf der großen Wolkenwand.
Eine Fahrt mit dem Werkstattwagen in den Norden zu einer Baustelle kommt angeflogen.
Mit meinem Kollegen sollte ich an einem Hotelbau an der See Fugen mit Dehnungsmasse verspritzen.
Während der Fahrt schon nahm ich ein kleines Quartheft zur Hand und schrieb die ersten Buchstaben.
Das Heft habe ich noch.
2025 © by J. G:
Ein Gesang.
Rauschen.
Das Lied des Unsterblichen im Sterblichen.
Mündlich überliefert.
Von einem großen Ohr zum einem anderen.
Poesie.
Aber, lieber Jonathan Goodwill, warum Radioaktiv?
In meinen Erzählungen „Licht den Tagen...“ hebe ich den Selbstmord auf und lasse Seymour in einer anderen Zeit und in völlig anderen Zusammenhängen auferstehen.
Die Hotelgeschichte flammt in zwei Erzählungen noch einmal auf.
Die Buchstaben sind dabei so aufgestellt, dass die Poesie nicht an der Welt scheitert, sondern sie hebt die Welt darin auf.
Auf meinen eigenen Streifzügen in jenen Jahren durch asiatische Literatur las ich einem Buch eines indischen Schriftstellers, es muss sich um die Wegstrecke Mitte der 80ger handeln, las ich einen Satz, „es könnte was mit Radioaktivität zu tun haben“.
Dieser Satz ist so „unmerklich“, dass er an mir hätte unbeachtet vorbeischweben können, wie das Fallen eines der vielen tausenden Blätter an einem stürmischen, kalten Herbsttag.
Doch so sollte es offenbar nicht sein.
Wohl ein Molekül dieses Satzes setzte sich sensationslos ins Gedächtnis meines Geruchssinns ab.
Der Duft der atomaren Grammatik dieses Moleküls blieb mir in den Jahren danach wachschlafend in den Sinnen haften. Nicht das ich ihn willentlich verfolgt hätte wie ein Eisbär in der Arktis, der über Kilometer hinweg die Fährte von Robben aufnimmt. Nein, so nicht.
Und dann wieder Salinger.
Er schreibt:
„Die Wirkung radioaktiver Partikel auf den menschlichen Körper, über die man im Jahre 1959 so viel geredet hat, sind alten Liebhabern von Dichtung gar nichts Neues.“
Und schon erwachte dieses literarische Molekül aus seinem atomaren Schlaf und hackte das andere unter.
Auf den Bühnen des Welttheaters steht die Karriere des Sapiens auf dem Spielplan.
Sapiens, der Mensch werden will.
Und das mit allen sprachlichen Variationen seiner geologischen Landschaften, mit allen individuellen Ansprüchen seiner Bewohner und mit allen säkularen und religiösen Einrahmungen politischer Gebeine, mit denen die Spezies ihren kurzen Auftritt auf dem historischen Bogen der Geschichte markiert.
Die Spezies Sapiens ist ausgestattet mit einem ins Leben übertragenen Atommodell
Ein Unikat, das eine Absicht trägt.
Hiersein.
In Ursprung und Gegenwart.
Offen.
SeitÄonen.
Zerfall und Aufbau.
Aufbau und Zerfall.
Alles gleichzeitig.
Weit und breit kein Leben.
Stabile Verhältnisse.
Heben und senken der Erdkruste.
Dann Atmen.
Überschwemmungen.
Eiszeiten.
Umkehrungen.
Größenwahn.
Wanderungen.
Warmblut.
Alles Fragen.
Fragen nach sich selbst.
In der Savanne mit den Füßen am Boden, erwachen andere Fragen.
Fragen nach dem Hintergrund.
Herkunft.
Wohin des Weges.
Weite.
Was spielt sich hinter dem Theatervorhang ab?
Was?
Wahrnehmen.
Die Bewegung.
Stillstehen auf zwei Beinen.
Mit zwei Pfund Gehirn.
Lautmalende Landschaft.
Materie.
Atome
Eingebunden in Leben.
Molekularbiologisch, seit Mllionen Jahren aufgerufen Fragen zu stellen.
Fragen nach dem Hintergrund.
Was strahlt hier?
Mit uns und durch uns.
Radioaktiv.
Eine Erzählung von Leben an den Küchentischen, Kaffees und Spielplätzen der anderen Art.
Das Genre der radioaktive Poesie am literarischen Strand.
Seitdem schreibe ich alles nieder, was mich passiert.
Die leibliche Bühne, das ICH, auf der das "passiert", ist der ganze Körper, sind die 100 Billionen Zellen.
Und die lesen das, was "passiert", nicht nur physisch, das wäre zu einfältig bei dem Angebot von Dimensionen in diesem Riesenreich, sondern sie notieren auch die lebensbewusste Passage des Ereignisses.
Hiersein.
Das Comeback.
Seymour begeht in dem besagten Hotelzimmer kein Selbstmord, so wie Salingers es literarisch der Öffentlichkeit anbietet, sondern das Geschoss im Lauf des Revolvers trifft hier nicht das ungeduldige Herz, wird in meiner Erzählung von der Nachtseite, dem Selbstmord, auf die Tagseite gewendet.
Zwei in einem Nest.
In dieser Erzählung wird mit dem Genre radioaktiver Poesie eine Lebensmaterie vorgestellt, die aus allen Knopflöchern strahlt.
Das Ereignis Materie, erste Münze, doch nicht bewusstes Motiv von Leben, hat einen strahlenden Hintergrund, der seit Urzeiten alle Welten - radio und aktiv - über das Neueste in Kenntnis setzt.
Der Autor bedient sich dieser physischen Realität und näht mit dem Genre radioaktiver Poesie erstmals handfest einen hellen Knopf an das schwarz bedruckte Nachthemd der Literatur.
Eine poetische Novität.
Dieses Bravourstück ist nach über 100 Jahren einfältigen Vordringens in die Welt der kleinsten Teilchen nicht nur überfällig, sondern das Handwerk des Dichters erwirkt mit der Novität angereicherter Silben eine erhebend, helle Aussicht, die jedem achtsamen Leser einen ersprießlichen Platz auf der dichten Verzweigung ewigen Wandels offeriert.
Die Umarmung der Liebenden öffnet die Tür in eine sagenhaft, wirkliche Welt.
Der schwarze Schleier der Teilung des Lebens, den Salinger noch als unüberwindbares Motiv für den Selbstmord seines Helden auf die Theaterbühne der Literatur gedruckt hat, fällt.
Eine Sensation.
Der Anmut verfallen fordert diese grandiose Aussicht auf den Innenhof der Welt die Liebenden auf etwas zu tun, was bislang dem Selbst im Menschen, dem lebendig strahlenden Eisenkern wahrzunehmen und zu tun verwehrt geblieben ist: Nimm teil am Unteilbaren, schöpfe Mensch.
2008 © by J. G:
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen