Sonntag, 27. Dezember 2020

Der Chinese aus Henan

Das Dorf war unser Spielplatz, sagte der Chinese aus Henan auf dem Weg zum Haus seiner Mutter. Als Kind sei er immer draußen gewesen. Niemand konnte uns finden, wenn wir uns versteckten. 

Vor dem Eingang nahm er seine alte Mutter an die Hand, ging mit ihr in das Haus, in dem in einer Ecke des Raumes ein kleiner Junge saß, der mit einem Pendel spielte und in einen Fernseher schaute. An den kahlen Wänden hingen Plakate mit chinesischen Landschaften, daneben Stromleitungen auf grauem Betonputz. Auf dem über die ganze Zimmerbreite stehenden rotbraunen Schrank stand eine Uhr zwischen Bildern von Verstorbenen. Es war kurz vor halb 12 Uhr in Zentralchina.

 Im unteren Wohnraum des schlichten, zweistöckigen Hauses steht eine mit jadegrünem Stoff bespannte Bank, an deren Sitzkante, verblasst, goldene Franzen hängen.  Mutter und Sohn setzten sich auf diese Bank. Neben seiner Mutter sitzend, fragte er, ob ihre Hüfte noch weh tue. Wirklich besser sei es nicht, antwortete sie. Ihr Bein sei außerdem etwas steif geworden und Kopfweh habe sie auch immer. Kannst du noch Fernsehen? Ja, das mache ich eigentlich immer, sagte sie. Auf dem Feld habe sie alles Mögliche angepflanzt, da sitze sie immer auf einem Schemel und mache rum.

 Aus einer Reisetasche holt er ein kleines Bündel Geldscheine und reicht es ihr mit den Worten, hier, etwas Geld für dich. Sie sagt, warum gibst du mir das? Du kannst es doch aufheben, antwortet er. Ich habe doch vom letzten mal noch was, sagt sie. Sie habe es dem Neffen gegeben, damit die Kinder zur Schule gehen können.

 Er steht auf, geht zu dem Schrank, auf dem ein rotes Telefon, einige, zerknickte Zettel, Räucherstäbchen und die Bilder der Ahnen stehen. Dies ist meine Großmutter, sagt er, sie wusste wie man einkauft und organisiert. Meine Mutter aber, ist wie ein Kind, bis heute weiß sie nicht wie man einkauft, weiß nicht wie man Geld ausgibt. Sie hat immer nur auf dem Feld gearbeitet. Die Mutter wendet bei den Worten ihres Sohnes ihren schmalen Kopf zur offen stehenden Tür, der bis zu den Augenbrauen unter einer tiefsitzenden, dunkelblauen Mütze steckt.

 Neben dem Schrank stehend zeigt ihr Sohn auf einen verstaubten Bilderrahmen und sagt, das ist mein Vater, er starb 1976, als ich geschäftlich in Lagos war. Bei diesen Worten wechselt er hinüber in die englische Sprache. Ein Bild auf dem Schrank zeigt ihn mit drei Geschäftspartnern aus Lagos. Er habe damals den ersten Flugbetrieb von China nach Lagos mit organisiert  als die Nachricht vom Tod seines Vaters kam. Er war sehr traurig, sagte er gefasst, er musste sich damals festlegen, nach Hause zu kommen oder sich für das Business entscheiden. Er blieb in Lagos, um dort den Flugbetrieb aufrechtzuerhalten. Ich erzählte damals keinem etwas, sagte er. Bei dem Wort „keinem“ hielt er kurz inne und seine Augen wurden feucht. Seine Lippen schlossen sich, seine Stimme fiel in den Falsett. Dann brach er bei dem Wort, mein Vater, schluchzend in Tränen aus. Seine Mutter schaute zu ihm, wischte mit der linken Hand um ihre Augen. Über das Gesicht ihres Sohnes rannen die Tränen und er sagte in einem die Kehle zugeschnürten Ton, „this is life“. Entweder du machst Business, oder du gehst nach Hause, beides zusammen schaffe er nicht.

Dann fiel er vor seiner Mutter auf die Knie, vergrub seinen zu großen Kopf in ihren kleinen Schoß und weinte bitterlich. Nicht weinen, wein doch nicht, sagte sie. An welch schlimmes Ereignis erinnerst du dich gerade. Komm, sagte sie, ich erzähle dir eine Geschichte. Damals in der Schule, da hast du nur gelernt. Du hast nie mit anderen Kindern gespielt. Aber es hat ja dann doch noch alles gut geklappt. Und jetzt achten dich alle, weil du so reich bist.

Langsam stand er auf, hielt dabei die Fingerspitzen ihrer Hand und blickte mit verweinten Augen auf seine Mutter. Hoffentlich ist die Arbeit nicht so anstrengend für dich, sagte sie und schaute hoch zu ihrem Sohn, bei uns geht es einigermaßen. Er nahm ein Tuch, wischte sich die Tränen ab. Bei uns war die Ernte im letzten Jahr nicht so gut, aber dieses Jahr schon. Ein wenig lachte sie bei diesen Worten. Wir hatten hauptsächlich viel Getreide letztes Jahr.

Leicht gebeugt stand der Sohn neben seiner Mutter. Hinter ihm der rotbraune Schrank mit den Bildern der Ahnen. Für einen Augenblick hörte man von Ferne das Rufen von Kindern. Er nahm seinen Blick vom Angesicht der Mutter, richtete ihn auf den durch die offene Tür sichtbaren Horizont des Wohnraumes. Für einen Augenblick war es still, dann lies er die Hand seiner Mutter los. Mit sachten Schritten ging er an der Bank vorbei, verließ das Haus seiner Eltern und betrat den vom Regen aufgeweichten Sandweg. 


© by J. G: 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

sapiens revue

„Die alten Kaiser besetzten das öffentliche Wort negativ.  Die Neuen machen das auch. Mit Macht. Der Mensch soll tunlichst seine sterbliche ...