Sonntag, 26. April 2020

Gottesanbeterin

"Wird einem das Wort wie eine süße Frucht in den Mund gelegt, dann soll man auch davon probieren."

Die Woche ging schneller herum als ich mich umsehen konnte.
Mittwoch war ich wie alle Schulpflichtigen erledigt.
Fototermin in einer staatlichen Schule.
Der Auftrag,
Neugier.

Indianer, die Hölle ist nichts dagegen.
Jugend, o mein Gott, was für ein herrlich loderndes Feuer, was für ein segensreiches Aufwärts. Von morgens um 9 bis nachmittags um 4 findet es sich eingesperrt in einem nach ranziger Butter riechendem, rechteckigen Raum.

Eine Brandstätte aus kahlen Wänden, umgekippten Stühlen, heruntergerissenen Bildern, verschmierten Tischen.

29 mal aus dem Fenster starrendes, junges Leben.

Am Boden finde ich Achtloses,
Weggeworfen.
Das Lied des Lernens.
Leergut.
Stifte, unbeschriebene wie beschriebene Zettel,
Zerrissenes, halbe Radiergummis, angekaute Äpfel, weggeworfenes Brot, vollgerotzte Zementplatten.

Säuglinge des Lichts.

Den staatlich verordneten Pflichtschultag verschlafen sie, wie die Indianer in den Reservaten, da sie ahnen und wie alles junge Wissen partout nicht lernen wollen, dass junges Leben sterben muss.

14 Tage brachte ich in diesem Zuchthaus der Buchstaben, Zahlen und Seelen zu, umringt von einer herrlichen Affenbande aus halbstarken Muttersöhnchen und bauchfreien Lolitas.

Dann das erste Foto.

Vom Sturm der Begierde nach Freiheit entfesselt, löste ich mich aus der Zentralperspektive, driftete Stunde um Stunde, mit den Schoßkindern wie eine müde Herde von Quallen im großen Ozean zur Küste der Erwartung.

Pause.

Endlich am vorletzten Tag der fallende Beginn.

Das Motiv.

In der Früh.
Vor Sonnenaufgang.
Unausgeschlafen wie Stroh aus dem Vorjahr stiefelst du an die Weide, um bei den Ackerwinden nach der Choreografie der Pferde zu schauen.

Hinsehen. Wie immer.
Immer wieder genau hinsehen.
Ja, man muss genau hinsehen, hinsehen, wenn einer kommt, dasteht oder sitzt, und wenn einer geht.

Jim, Jenna, ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie, Schüler, alle kommen und gehen gleichzeitig.
Erstmals sah ich leibhaftig im jungen Habitus den hellen Tanz der Materie im noch unbewussten Leib.
Alles steht still und bewegt sich.
Gleichzeitig.
Grandios.

Der Eingang ist auch der Ausgang.
Das Lächeln der Mona Lisa.
Der Tod, ein Witz.

Schließe die Augen, Indianer.
Fühlst du den breiten Strom der großen Wasser.
Höre, welche Namen sie tragen.
Nil. Mississippi. Ganges. Jenessai. Rio Negro. Okavango. Jangtsekiang.

Im Angesicht einer Schülerin sah ich dann endlich die großen Flüsse aus den sieben Himmel strömen.

Seelendurst brannte in ihren Augen und mit ihm löschte sie alle Erinnerung von Schulweisheit aus. Erhaben glänzte das Unsterbliche und flog auf einem selbst geschnitzten Pfeil über den breiten Strom der Generationen selbst liebend ins Freie, während das tote Gehölz der Buchstaben gelehrt und müde an ihr vorbei trieb."

  © by J. G:



Das Schöne war, wenn eine künstliche Fliege an ihr vorbeizog,
hat sich die Gottesanbeterin zurückgelehnt und hat Zeitung gelesen.
Ganz anders als eine lebendige Fliege vorbeikam.
Da hat sie „Schnapp“ gemacht.“


v. Foerster

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