„Seit gestern fegt ein Orkan aus Südwest über das Land.
Heute Morgen stellte mir meine Nachbarin ein Buch von einer Kolumbianerin, Ane Mendieta, vor die Tür gestellt. Ane hat „feminal figures“ visualisiert und geformt, eine Art von archaischem Alphabet des Urweiblichen. Die Zeichen und sich selbst hat sie in der Lehmerde Cubas freigelegt. Das hatte seinen Preis. Mit 36 Jahren hat sie sich kurz nach ihrer Heirat das Leben genommen.
In einer Woche bin ich erneut Gast im Schloss.
Nach dem Frühstück lese ich in der Welt einen Artikel über Martin Walsers Buch „Ein liebender Mann“.
Walser stielt sich mit knäblicher Lust unter das Stehpult und schlüpft im literarischen Kopierraum der Nation in den für ihn zu großen Rock, stolziert mit seinem Stock über das Karlsbader Kurpflaster, will in alternder Haut sich prostituieren, will öffentlich in den kleinbürgerlichen Schritt fassen, will selbst nach fühlen, was Liebe im sterblichen Abgesang aufhebend vermag. Walser 81, Goethe 74, Ulrike, seine Liebe, 19 Jahre.
Uraufführung des Lustspiels fand im Weimarer Festsaal statt. Von der präsidialen Leibstandarte und einem biederem Voyeurismus auf den Sockel der Literatur hofiert, fand sich unter kahlen Buchen und brünstigen Lüstern eine Bestsellergesellschaft ein, die vom Autor verschmäht hören musste, was Ulrike und Goethe in den Gassen des Marienbades nie gesagt hätten.
Das Feuilleton der Welt am Sonntag zeigte sich entsetzt über den kolportierten Zivilisationsverlust im Munde eines nationalen Denkmals, die reziproke Kulissenschieberei von Exaltation und Blasswerden auf der Bühne einer überschätzten Gesellschaft, das verkehrte Verzichttheater, die platte Entsagungsschau, die stupide Anrempelei auf der Kurgasse. „Dann schreib mir doch heimlich, Mensch“. Nie, so der Schreiber der Welt, nie hätte Goethe so etwas gesagt. Aber das ist eben Walser, eine unartig ausgearbeitete Erektion vor einem Bezahlpublikum.
Thomas Mann, so erfahre ich aus dem Artikel, hat sich mit „Lotte in Weimar“ schon im letzten Jahrhundert einmal Rock, Stock und Wort von Wolfgang ausgeliehen, um das Liebesgeflüster vor den Toren des jungen Leibes abzuhorchen.
Stefan Zweig schrieb dazu:
„"Lotte Kestner, die ehemalige Lotte Buff, die Jugendgeliebte Goethes und unvergeßbar als die Lotte des Werthers, kann der Versuchung nicht widerstehen, nach fünfzig Jahren, nach einem halben Jahrhundert Goethe, den Theseus ihrer Jugend, wiederzusehen. Ein Großmütterchen, reichlich delabriert von der Zeit und sonst weise geworden durch sie, begeht sie die süße Torheit, noch einmal das weiße Wertherkleidchen mit der rosa Schleife anzuziehen, um den ordensbesternten Geheimrat an die süße Torheit seiner Jugend zu erinnern. Und er sieht sie, ein wenig geniert, ein wenig gestört, und sie sieht ihn, ein wenig enttäuscht und noch geheimnisvoll berührt von diesem etwas gespenstischen Wiedersehen nach einem halben Jahrhundert. Das ist alles. Eine Fabel, groß wie ein Tautropfen, aber wie dieser ein Wunder an Farbe und Feuer, wenn angestrahlt vom oberen Licht." (Stefan Zweig)
„…wenn angestrahlt vom oberen Licht“, was für ein Spalt im dunklen Erz.
Im Taumel des Niedergangs, im freien Fall der Vergeblichkeit jeglichen Begehrens wird mit der Hingabe des Leibes die Gnade des Flutlichts im kosmischen Stadion der Liebe erfleht.
Der Landartkünstler Heizer hat in Nevada mit seinem Schaufelbagger jahrelang ganze Landstriche deswegen ausgehöhlt, nur um den Asphaltprimaten mit „double negative“ zu zeigen, was er eingeschlossen in Perspektiven und Funktionen von Zivilisation sediert teilnahmslos übersieht.
Ein Seidenspinner.
In „Tod in Venedig“ wagt sich Thomas Mann auf damals gesellschaftlich vermintes Gelände. In dem Buch deckt der Autor den homoerotischen Leib in der Hingabe des Schriftstellers Gustav von Aschenbach zu dem Knaben Tadzio auf und begräbt damit auch seine bürgerliche Lebenslüge von einem strengen Eheglück. Am literarisch aufgedeckten homoerotisch leiblichen Verlangen ihres Mannes erkrankt, traf sich Katia mit ihrem Mann Thomas im Kurort Davos. Beide sich gegenseitig um Nachsicht und Verständnis bittend. In der Höhe des Kurortes fand Thomas Mann zu seinem Zauberberg und Katia in eine tragfähig, vergebende Dankbarkeit.
Ein erlösender Fingerabdruck in der Feuersbrunst der Materie scheint den Homo Sapiens nach gut viereinhalb Äonen immer wieder in das seitenverkehrte Buchstabieren von Pech und Schwefel zu verleiten.
„Alles was entsteht, ist wert, das es zugrunde geht“, lässt Wolfgang aus Weimar seinen Mephistopheles in Goeth´scher literarischer Alleinherrschaft fabulieren.
Mephisto spaziert geschäftstüchtig im Atem der ersten Hölle, in einer Sonnenwelt, einer vom Vergehen und Entstehen durchdrungenen Materie, die von Anfang bis zum unendlichen Ende hin wohl ungnädig strahlt, offensichtlich radioaktiv permanent auf Sendung ist, deren Frequenz die zweigeschlechtliche Spezies des Sapiens dumm und mit archaischer Angst bekleidet verteufelt.
Der amerikanische Schriftsteller Salinger schreibt:
„Die Wirkung radioaktiver Partikel auf den menschlichen Körper, über die man im Jahre 1959 so viel geredet hat, sind alten Liebhabern von Dichtung gar nichts Neues“
Nun verlangt der animalische Leib in seinem Begehren das Herz der Liebe, den unvergänglich strahlenden Leib zu umarmen und ihn nicht nur von Ferne zu verehren. Dabei ist es wurscht, ob der Gegenstand der liebenden Verehrung ein Weib oder ein Mann, eine Eisenbahn oder ein Küchenstuhl ist, Hauptsache Körper, ewig Sonne, Wasser Strand. Warm und weich, herrlich weiblich männlich ausgedehnter Liebeslieb.
Wie soll man das Kunststück jedoch fertig bringen, wenn das, was mit Haut und Haar geliebt sein will, sich mit bloßen Händen nicht fassen lässt. Wie soll man den Glanz des Himmels bewahren, wenn schon im Pflücken des Klatschmohns das unsterbliche Rot aus dem sterblichen Herzen weicht. Wie soll man den Auftrag des Liebesboten nur erfüllen, wenn das, was einverleibt sein will, ohne gefressen zu werden, wenn die gesamte Phalanx der Denkprimaten seit Jahrtausenden liebeskrank daran zu Grunde geht.
In seinen Marienbader Elegien ging Wolfgang der Sache auf den eitlen Grund.
Mit dem Atemzug verlorener Anhöhe und gesellschaftlicher Bewunderung gestand er in den ersten zwei Zeilen des letzten Verses: "Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren, der ich noch erst der Götter Liebling war".
Weder die Höhe des nationalen Denkmals JWvGoethe noch Glanz und Ehre höfischer wie weiblicher Bewunderung, auch nicht der Schmerz des Abgewiesenen, haben den Fels aufzubrechen vermocht. Die letzte Zeile des Klageliedes: „Sie (die Götter) trennen mich - und richten mich zugrunde.“
Auch Martin holt sich mit seiner halben Erektion im Schädel an dem Liebesfelsen seine Beule. „Es gibt das Paradies: Zwei für einander. Es gibt die Hölle: Einer fehlt.“
Frau Levetzow, der Mutter seiner Geliebten Ulrike, schrieb Wolfgang dann einen Brief.
„Heute, verehrte Freundin, auf dem Lande, freundlich veranstalteten Festlichkeiten ausweichend, stelle ich jenes Glas vor mich, das auf so manche Jahre zurückdeutet, und mir die schönsten Stunden vergegenwärtigt. Nach so wundersam unerfreulichen Schicksalen, welche über mich ergangen, an denen Sie gewiss herzlichen Anteil genommen, wende ich mich wieder zu Ihnen und Ihren Lieben, einige Nachricht erbittend, die Versicherung aussprechend: Dass meine Gesinnungen unwandelbar bleiben. Ilmenau am 28. Aug. 1831 treu angehörig JWvGoethe“.
Nicht alle haben es mit ihren Füßen bis auf die karstige Höhe geschafft, haben sich schon im ersten Anstieg selbst Ausblick und Flamme genommen. Wolfgang war geologisch gebildet, lies lieber den Werther sterben und blieb selbst am Leben.
Warum springe ich an diesem stürmischen Morgen in meinem Glaspalast auf diesen Sonntagszug?
Habe ich doch selbiges seit Jahren im Reisegepäck, schreibe mir an dem eisernen Rad der Geschichte wie der Zurücknahme des literarischen Selbstmordes Buddhas Herz frei und Finger wund, so als wolle ich mit dem naiven Spiel des göttlichen Kindes über den erblindeten Spiegel des erwachsenen Denkens wischen, damit für einen Augenblick Licht aus dem Anfang der Welt vom Scheitel bis zur Sohle fällt.“
Die Geschichte hat ihren Ausgangspunkt in der Erzählung „Ein herrlicher Tag für Bananenfisch“, in der Salinger (Neun Erzählungen) seinen buddhistischen Helden in einem Hotel am Meer Selbstmord begehen lässt.
Im Hotelzimmer 507 drehe ich den Sargdeckel um, hebe den Selbstmord Buddhas auf und lasse den Charakter in einer anderen Zeit und in völlig anderen Zusammenhängen auferstehen.
Das Comeback.
Gleichsam wird damit das Scheitern der Poesie an der Welt aufgehoben. Die Poesie scheitert nicht an der Welt, sondern sie hebt die Welt darin auf.“
P.S.
Für Wolfgang und Ulrike
„Zwei in einem Nest“ (ein Auszug)
Der Fahrstuhl fuhr zurück in die Eingangshalle.
Im Hotelzimmer 507 hing der Telefonhörer neben dem Telefonapparat, pendelte gewichtslos hin und her und tippte dabei dreimal flüchtig gegen den rosa Teppichboden.
Der Duft eines Parfüms strömte wie eine Herde hellbrauner Gazellen über den Flur des 5. Stockwerks.
„O Madame, legen wir uns vertikal ans Licht.“
Unbewegt lagen sie da, in all der tiefen Physik, masselos empor.
Die kleine Zeichnung rechts neben der offenen Zimmertür, mit 2 blauen, einer roten und einer weißen Stecknadel an die Wand geheftet, war blendend gelaunt.
„Das Tote ist nicht tot, Seymour, eigentlich ist es bewusst, flammend, so wie Johannes es in seiner Feuerschrift prophezeite.“
„Die Aborigines wandern schon seit Jahrtausenden in diesen Feuerlinien.“
„Dein alter Freund J.D. versucht seit Jahrzehnten mit unveröffentlichten Doppelhaikus eine strahlende Lichtung durch das Blei der Sesshaften zu schlagen.
„Schreiben ist eine Sache, umherziehen was anderes.“
Sie stieg aus dem Bett und ging barfuss durch die halbgeöffnete Tür ins Badezimmer.“
© 2008 J.G: