Mittwoch, 11. August 2010

flug des flamingos

"Im Haus der weiten Welt erholt sich das ich und alles andere von den engen Fluren und schäbigen Klassenzimmern jeglicher Bevormundung. Da ist es egal, ob die Vorschrift aus dem Amt kommt, das Gebot von der Kanzel oder die Nachricht über einen elektrischen Apparat.

Mit all der beglaubigten Zuversicht, mit all der nützlichen Anstrengung, mit all dem vermögenden Versagen, mit all der glückseligen Freude und mit all der lohnenden Mühe, mit all den matten und glänzenden Speichen in diesem kleinen Räderwerk der Freiheitsliebe will die kosmische Provinz befahren sein, damit die weite Welt gehört und gesehen wird und das Unfassbare endlich tönend in uns passieren kann.

All dies soll geschehen, bevor Krankheit, Dummheit oder Unfall mich niederstrecken. So dass jenes Licht der weiten Welt mich passiert, bevor mir im bedächtigen Niedersenken der Lider in den kühlen Grund mir mit allen Ehren der umstehenden Nachrede die Tapferkeitsmedaille der kriegsversehrten Unwissenheit auf der kalten Brust das noch warme Herz verschließt

Am Nachmittag lese ich im Buch der Taugenichts und Nachtigallen, von all den Heines und Hölders, die mit dem reinen Strich halbwüchsiger Flammenzungen die eiserne Flinte des monetären Gebets frech, fromm und frei einzuschmelzen begannen.

Während die staatlichen Pulverrohre bereits mit Bleikugeln gefüllt auf die schwarz-rot-goldenen Fahnen angelegt wurden und die beauftragten Kirchenregimenter freiheitsgläubig aufblickenden Mägde, Bauernsöhne, Handwerker, Studenten mit ihren Litaneien schuldigst in die gefräßigen Mäuler des Fegefeuers trieben, hoben die klammen Dichter den feudalen Koloss des Grundeigentums an Leib und Leben mit ihren leichtschürzigen Versen an. Für das freigesinnte Volk beurkundeten sie aufs Trefflichste, dass es wahr ist, dass der liebende Vers im innersten Gemüt den eiserne Ring der Sterblichkeit löst und das so in Angst und Schrecken gehaltene Herz freigibt für das Unendliche, die Liebe.

Durch das Glas des Wintergartens schaue ich hin zu meinem privaten Horizont. Still drehe ich mich an diesem Nachmittag mit meinem Heimatplaneten um das Zentralgestirn. So sitze ich bis zur Dämmerung einfach nur da und versuche meine elektrisch beladenen Elektronen nach dem Lesen der Verse in einen gute Umlaufbahn zu bringen. Als die Welt an diesem Abend beginnt ihre Farbe zu verlieren, durchschweift ein zarter Strom, nur ein Hauch strahlendes Flimmern meine Zellen und eine wunderbar kindliche Passivität erwacht in meinem Körper, die das Restlicht aus dem Hintergrund des Universums widerstandslos in mir passieren läßt.

Ich langte in meine linke Hosentasche und holte einen kleinen, zerknüllten Zettel hervor, hielt ihn in meinen Händen, drehte ihn mit Daumen und Zeigefinger beider Hände hin und her und je länger ich ihn hin und her drehte, mal mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, mal mit der linken, bemerkte ich, wie in der langen Weile des Abends Punkt, Komma, Strich und ich verschwand.

Von dem, was da vor sich ging verwundert, drehte sich der Zettel in meinen Händen weiter in den Abend hinein und im Drehen und Starren und Drehen und Starren erhob sich in mir aus dem Nichts ein Massiv ungeheurer Ahnung.

Der kleine Zettel hatte seit den Nachmittagsstunden in meinen Händen die Form einer kleinen, weißen Wolkenmurmel angenommen, die ich aus der Abgeschiedenheit des Nachmittags, ohne das es die Astronomen auf ihren Hügeln und an ihren Fernrohren auffiel, heimlich auf eine Sonnenbahn schob.

Im Drehen und immer wieder nochmaligen Drehen flammten plötzlich Zeichen auf, die aus dem Inneren des Zettels in den Raum schwebten und wie von Zauberhand wieder verschwanden. Zeichen, die keine Zeichen waren, so wie wir sie in den Schulen lernen, keine auf weißes Papier nieder geschriebene schwarze Buchstaben. Bei aller Liebesmüh ergab das in diesem Augenblick Erfahrene keinen Sinn für meinen kleinen Spiegel des Verstandes und auch durch das beschauliche Drehen des Zettels kam mir kein bekanntes Schriftstück aus dem Denkmal der Welt entgegen.

Will ich das Geschehen für mich und die Nachwelt beschreiben, wurde ich an diesem Nachmittag Zeuge eines beispiellosen Schauspiels, das sich nicht mit dem mir bekannten Alphabet erzählen lässt. Es waren Zeichen, die sich wie der weiße Zettel in meiner Hand nicht nur drehte, sondern, die wie kleine Funken, kaum sichtbar, aus dem Nichts hervorsprangen und ehe ich sie mit dem Alphabet meiner Schulbildung ergreifen und in den zivilen Kanon des Sapiens einzuordnen versuchte, verschwanden sie auch schon wieder, um in anderer Gestalt, an einem anderen Ort des nahen Raumes um mich herum wie Glühwürmchen wieder Zeichen gebend kurz aufzuflammen, um sogleich wieder direkt vor mir in einer unerreichbaren Ferne zu verschwinden. Dabei handelte es sich eher um einen seltsam anmutenden himmelwärts fallenden Flug weit entfernten Sterne, die sich erhobenen Hauptes jubelnd aus der Glut eines zügellosen Brandes in das sie auflösende Nichts stürzten.

Die noch junge Ausgabe meines irdischen Hirnkastens versuchte vergeblich die Zeichen zu lesen, versuchte den mysteriösen Vorgang zu verstehen, doch all die von Bäumen geschüttelte Weisheit, all die über die Generation erlaufenen Disteln, Stacheln, Dornen und Rosen in Füssen und Händen, all die im Kampf ums Überleben Erschlagenen, all das anstellig auf der Schulbank verordnete Lesen und Schreiben von verbeamteten Buchstaben, all die in den lichtlosen Nächten studierten Litaneien der Gebeine, all die präzisen Analysen und ihr immer um ein Schlag zu spät kommendes Uhrwerk, dieses gigantische Konsortium an Buchweisheit, Betriebsanleitung, all die radioaktiv zerfallenden Silben, all das reichte in diesen Abendstunden nicht aus, um das, was mich da passierte, für wahr zunehmen.

Mit den letzten Strahlen des Tages bettete mich das Abendlicht in den rosaroten Flug eines Flamingos, und mit dem seichten Schwingen der auf und nieder wogenden Flügel, kehrte ich mich von dem Übel des Verstehens ab, wandte mich nach vorn, zum Eingang des Nachmittags und drehte den weißen Zettel zwischen Daumen und Zeigefinger wieder und wieder wie ein gelangweilter Kaiser hin und her." J.G:

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

sapiens revue

„Die alten Kaiser besetzten das öffentliche Wort negativ.  Die Neuen machen das auch. Mit Macht. Der Mensch soll tunlichst seine sterbliche ...