Samstag, 28. September 2024

Ein Viertel




Was für eine Überraschung, Monsieur.

Welch eine Freude zu dieser Mittagsstunde!

Kommen sie, ich zeige Ihnen das Neusteste in meinem Atelier.

In der Nacht die letzten Striche.

Die Farben sind noch nicht ganz trocken.

Dort, sehen sie, auf dem Boden steht es.

Übertüncht, in der Mitte, Buchstaben.

Gehen sie ruhig näher ran.

Lesen sie. 



"...selten...von oben... auf sich ... Leben...

meist... unten angekom.... to... Steine..."*1



Eine lange Zeit konnte ich keinen Pinsel mehr halten.

Sie wundern sich.

Die Hände wollten nicht mehr.

Konnte keine Leinwand mehr sehen. 

Musste raus.

Das ganze letzte Jahr.

War auch in der Klinik.

Medikamente.

Ein einziger dunkler, brennender Schatten lag über meinem Atelier.

Schauen sie mich an, wie ich aussehe.


Sie sagen, sie hatten die Kontrolle verloren?


Ja, wie soll das gehen in diesem Riesenreich?

Kontrolle, das ist ja lachhaft.

Will man es, folgt der Kollaps.

Eine Naturkatastrophe.

Innere Waldbrand nach einem Blitzeinschlag.

Hatten sie Angst?




Ich war erstarrt.

Spürte wie eine Art  Kristall um mich barst.

Ausgespuckt. 

Nackt, kein Schutz von Rettungssanitätern und Gedanken.

Taumel, Schwindel, eiskalt.

Atemnot.


Sehen sie, hier auf dem Bild, das sind die seismographischen Linien dieses Ereignisses.

Lauter Brüche.

Kristallene Starre.

Und dann das.

Plötzlich unerwartet Sedimente.

Keine Objekte. 

Sie sind Subjekten.

Reden.

Ein traumatischer Zustand.

Was ist tot, was ist lebendig?


Eine Antwort gefunden in ihrem Bild? 


Die Brüche habe sich in Han Purpur auf die Leinwand aufgetragen.

Brüche öffnen.

In den Aufbrüchen wachsen so was wie Lianen.

Neue Verbindungen

Visionen.


Da scheint wohl was durch.

Bilden die Lianen Ziffern ab?

Mit Han Purpur kündigt sich was an.

Könnte sein.

Musikalisch hört es sich an wie Posaunen, recht laut.


Ein Bote.


Ja, nicht in den Brüchen, an den Rändern, den ersten Ufern schon, in den Schwingungen..


Da scheint etwas durch, das wir nicht so gut sehen, entziffern können, aber doch wahrnehmbar  ist, 

Ich habe dafür die Farbe Ploss Blau genommen, um es besser lesen zu können.

Je mehr Farbe ich auf der Leinwand diese Farbe verteilt habe, je transparenter wurde es.


Was sieht sich da?


Seltsam.

Kein Objekt.

Kein Ende von was.

Subjekte.

Ziffern als Lebewesen.


Echte Lebewesen?


Würde ich so nicht sagen.

Es fehlen mir noch die Worte.

Irgendwie heller, durchscheinender als Lebewesen, transparenter. 

Diese Farbe hebt das Undurchsichtige auf.

Die Trennung ist aufgehoben.

Alles ist eins.

Und doch sind die Dinge unterscheidbar.



Und was ist das dann?



Bleizinngelb, habe ich versucht.

Dann war alles Hell, sehr  hell.

Wie ein Sommertag, der nicht enden will.

Eine Gleichung. 


Eine Gleichung für was?


Malen und Zeichnen, ein physischer Zustand.

Ein Akt. 

Berührung.

Ein archaischer Vorgang.

Fühlen.

Kontakt.

Mit anderem.

Mit sich.

Selbst entsteht.

Seit Anbeginn ein Tanz auf der ganz großen Leinwand.

Atome, Moleküle, Schachtelhalm, Nasenbär, Krokodil.



Und stoßen sich wieder ab.


Ja, alles In Nullkommanix. 

Keine Zeit im Spiel.

Anstoßen, umarmen, freigeben. 


Ein ewiges Lichtbild; Madame.



Totes Material, Sedimente, von Licht und Wasser über Jahrmilliarden belebt. 

Mit mir stehe ich plötzlich nach Millionen von Jahren vor einer Leinwand, male und zeichne. .

Ja, wen und was denn?


Die Welt, sich selbst.

 

Das ist doch unheimlich. 


Madame, welche Farbe ist das?

 

Das ist Kosmochlor Jade.

Ja, eine Farbe, die diese Art von "sich sehen" offenlegt. 


Und hier?


Ja, Monsieur, Plasma ist auch im Spiel. Das überlebt jede Katastrophe. 

Meine Initialen, in Opalrot.


Eine Heimsuchung?


Ja, ja, richtig.


Und,  wie geht´s hier weiter?


Über Jahrmillionen nur Kiemenatmung.

Und plötzlich soll man mit den Lungen atmen.

Jahrmillionen nur kriechen.

Plötzlich soll man fliegen.

Jahrtausende tasten und denken in unbewussten Zeiträumen. 

Plötzlich sieht und fühlt man anders, in Materie, die wach ist.

Alles ist so unglaublich ausgedehnt.

Kein halten mehr.



Ja, wie denn? 


Erstickungsanfälle.

Kaltschweiß. 

Lichtfallen.



Wohin?


Anfangs n diese elende Starre. 

Doch dann.

Eine Bogensekunde nach dort oder hier.

Eine winzige Bewegung nur.

Schon ist alles anders. 

                                      

 Durchscheinend.


Nicht nur ich, sondern auch das Bild, 

puuh, die Welt selbst schaut.


Eine Nötigung.


Absolut.!

.

 

Monsieur, ich bin etwas über 50, kosmisch gerade mal eine viertel Sekunde am Leben, wenn es hoch kommt. Meine Kinderschuhe, die ganzen Bilder, mein ganzes Leben steckt in diesem winzigen Viertel. 


Eine Hirnraserei.


Ja, und gleichzeitig eine unheimliche Ausdehnung und Ruhe in diesem Viertel.

Hier meine Hände, fühlen sie meinen Puls.


Ein passabler Takt.


Ein pulsierender Ort, dieses Viertel.


Heimat aus Kohlenstoff.



Und mehr.

Hier, sehen sie, dieser Ort hat nicht nur Hände, kann nicht nur einen Pinsel halten, Bilder malen, einen Kaffee am Mittag kochen, lieben, er kann auch die Leere dieses Universums, diesen rasenden Stillstand in diesem Viertel empfinden, einen tiefen Atemzug nehmen und einen Strich in der Nacht auf der Leinwand setzen.


Eine Sensation.


Seit Milliarden von  Jahren flitzt ein Zündfunke durch dieses kleine Viertel in meinem Atelier.

Und jetzt, ja jetzt malt dieser Zustand mit mir die Linie nach rechts, die auch gleichzeitig eine Linie nach links ist, und umgekehrt.

Und, male ich die Linie nach oben, ist sie auch gleichzeitig eine Linie nach unten, und umgekehrt.

Und dann noch mit all dem Licht in dieser Finsternis.

 

Willkommen im Weltenraum, Madame.


Kommen sie, wir gehen in den Garten.

Es ist noch warm.



 ©   by  J. G:



„Nur sehr, sehr selten hat man von oben einen Blick auf sich und sein Leben. 

Meist geschieht das, wenn man ganz unten angekommen ist, im Reich der toten Steine.“ *1


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