Alles ist nichts gegen das Wirkliche, das mit Liebe belebte, die so poröse Sekunde, der Augenblick fallenden Lichts in dunkler Kaverne.
Mit einem Atemzug passiert das Helle meine Zellen, löst sich das an das Ende gebundene Wort schwarzer Buchstaben von meinem irdenen Grab. Das hornhäutige Gesindel aus Lehranstalten, Fibeln, Klingelzeichen und Hofpausen fällt mit einem Mantelwurf.
Die acht Himmel der Sterblichkeit singen ihr letztes Stück.
Dann fällt der Vorhang.
Der Schrei meiner Tante auf dem Sofa und das unermüdliche Entsetzen meines Vaters über den Großbuchstaben der Tageszeitungen waren der äußere Anlass, dass ich mich bei diesem Anblick immer wieder so fühlte, als würde mich ein gewaltiger Riese gegen meinen jungen Lebenswillen in seine Hand nehmen und mich mit dem kleinen Finger seiner rechten in seine geschlossene Eisenfaust stopfen.
Eine ungeheuere Kompression erfuhr ich in dieser Eingebung, so wie aus dem Wandel über Jahrmillionen aus biologischem Leben Kohle und Erdöl wird. Nur bei mir geschah es in diesen Tagen des kindlichen Entzückens in Sekundenbruchteilen. Unmittelbar fühlte ich mich in die Tiefen des Erdinneren gepresst und sah unter mir direkt in das glühende Herz der Erdmitte, weit hinein und hindurch, dort, wo jeglicher Lebenshauch in mir seinen glühenden Anfang nimmt.
Seltsamerweise erlebte ich diese Art von geologischer Selbstherrlichkeit nicht als Katastrophe, so wie man sonst aus Gewohnheit dazu neigt ein solches Geschehnis als Unglück wahrzunehmen, wohl, weil die noch sehr junge Spezies Sapiens im allgemein noch von der heillosen Furcht geplagt ist, auf der dahinwandernden dünnen Kruste des Erdmantels gottvergessen und mutterseelenallein Leib und Leben zu verlieren und für immer und ewig aus dem Eldorado des Daseins auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.“ Aus „Licht den Tagen voran“
Der neunte Himmel.
Sonne des immerwährenden Tages.
Einstweilen sind Tage vergangen, sonnig Tage im Frühling. Noch 5 Tage bis Ostern. Die Luft kälter belebt, der Himmel zeigt sich windig und angefüllt mit grauen Wolken.
Muriels König ist krank. Es ist wohl der Backenzahn im Maul ihres treuen Pferdes. Gestern Abend rief sie mich gegen halb 11 Uhr an. Gedankenlos fiel ich bereitwillig in den Schlaf als es klingelte. Mein erster Gedanke, den ich erwischte war, die Nacht ist rum, aufstehen. Ich nahm das Telefon vom Tisch neben dem Bett und sah Muriel und zwei Herzen aufleuchten. Ich legte das Telefon mir im Lieben auf das rechte Ohr, die Augen hielt ich geschlossen, wohltuend blind. „Hallo Muriel“, „Hallo Seymour“, „Da, der Mond, das reicht mir“, sagte sie im süßen Klang der mondbeschienen Nacht, den Klang, den ich so liebe. „Doch heute Nacht reicht mir das nicht“, flüsterte sie mir liebestrunken ins lauschende Ohr.
In ihrem Handwerk ist sie oft genötigt über mehrere Meter laut ihre Stimme zu erheben, um die einfachen Gebote in die Sättel und Zügel zu bringen. In Freude überschwänglich galoppiert sie mit dem Wort in Bündeln und Garben manchmal über Tische und Bänke, kommandiert und befiehlt falsche Haltungen aus den Übungen und verweist übermütig im jungen Ton auf Pfade in freier Wildbahn. Alles doppelt und einmalig.
Mit süß verlockender Stimme sitzt sie manchmal vergnügt in ihrem weißen Auto und tiriliert aus den grünen Zweigen ihrer Kehle Frohsinn in die Welt. Fast jedes Lied aus dem Radio begleitet sie mit dieser Freude am Leben. Sie singt und singt und beglückt damit auf ihrer Fahrt über Land für Sekunden alle Zäune, Überlandmasten, Begrenzungsstreifen, Häuser, Toreinfahrten und Geschwindigkeitsmesser.
Über sich selbst gebeugt neigt sich ihre Stimme im Palast zuweilen zart über den Rand der Welt und fällt gleichsam einer Kirschblüte aus Schönheit geboren schamvoll nieder.
Das Unerhörte singt.
Kohlenstoff, seit Anbeginn der schwarze Mann im Gedankenbild, der ewige Ruß auf dem Glas der Wahrheit, flackerndes Zwielicht im Kurbelkasten des Denkens, seit Äonen stürzt er im leeren Watt des Alls liebestrunken in den Schmelztiegel innerer Sonnen hin zum Zeichenstift in unserer Hand.
Die Welt erwacht.
Sie ist und wird.
© J. G: