Dienstag, 23. April 2019

Blinder Marsch und höchste Tiefe



Trommelwirbel aus dem Orchestergraben.
Wer den Ort des Geschehens weiterhin im Gehirn allein sucht, sucht vergeblich, kreist im alten Weltbild wie die Sonne um die Erde, 
wie ein altes Zirkuspferd um den dickbauchigen Direktor.


„Meine Wohnung hat jetzt eine neue Küche. Zwei Lichtschalter fehlen noch. Vielleicht sollte ich mich beeilen. Doch in diesem Moment, zwischen zwei Schritten, von einem Fuß auf den anderen, komme ich mir so vor, als würde ich derzeit nur vitaminarme Blätter essen und wie das Faultier morgens in der Früh die paar Meter vom Badezimmer in die Küche zwei Tage brauchen.

schreiben
das alles aufschreiben
was es ist
nicht zu glauben
das leben 
ich weiß nicht
und dann noch gott
und alles mit diesem hirn
was is mit den buchstaben
ne
ich weiß nich
vielleicht so was wie bestäubung


Im Schützengraben des freien Lebens sprengte Alfred Jarry mit seinen Schriften, seinen Theaterstücken und seinem eigenen Arsch den Weg frei für all die Künstler, die Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen mit den Entdeckungen der Physik damit begannen, die Welt aus ihren unbewussten Angeln zu heben.

Mit seinem König Ubu, schlug er das klassische Theater kurz und klein. Es sollte, was damals noch keiner ahnte, der Geburtsschrei einer neuen, einer von bürgerlichen Konventionen enthemmten, individuellen Darstellungen von Leben sein.

Jarry klingelte bei seinen Radtouren nicht mit einer Klingel, sondern gab dafür Revolverschüsse ab. In das Cafe stürmend rief er:

 „Ist das nicht schön wie Literatur“ Alfred Jarry 1873 – 1907

So verlegte er kurzerhand die Passion Christi in ein bergauf führendes Radrennen mit dem heiligen Matthäus als Sportreporter und einem Radchampion Jesus, der von der zwölften Kurve ins Jenseits befördert wurde.

alles ist weit größer und heller
als man am schwarzen Ort des grammatischen Geschehens
überhaupt ahnt“


Der Korken für das 20. Jahrhundert war aus der Flasche und all die großen Angsthasen und Liebhaber des ungebundenen Lebens, all die Taugenichtse und Nachtigallen der Boheme, all die konservierende Spreu der Räsonierer, all die Klugscheißer mit ihren peniblen  Bleistiften, ihren malerischen Stummelschwänzchen und alkoholisierten Wagenladungen von Revolutionen, wagten sich in den Jahren danach aus ihren kleinbürgerlichen Verstecken, aus ihren verschulten Schreibstuben, ihren kalten Ateliers, malten, schlugen, kratzten und schrieben sich mit ihren elend hellen Brüchen nieder in das Ringbuch der Welt.

Es ist Frühling.

Verzeihen sie, die Nähe.
Doch die Offenbarung der Kindheit will verraten sein. Nicht erst nach Schicksalsschlägen. Es sind jene hellen Stunden, in denen die Erde in allem erblüht und das hingeworfene Leben von innen aufscheinend erkennt,
 warum es strahlend in diese Welt entbunden ist.

Ich war neun, als ich abends wieder einmal zum Erschrecken meiner Eltern und zum Vergnügen meiner drei Geschwister mit beiden Händen auf die Ohren gepresst auf dem hellbraun gemusterten Sofa in der Küche saß. Meine Eltern waren auch in der Küche, um das Abendbrot anzurichten, meine Geschwister, kichernd im Kinderzimmer. Durch die offene Tür des Kinderzimmers konnte ich sehen, wie sie mir mit vor Albernheit platzenden Gesichtern versuchten, rettende Zeichen zu geben.

J. G:



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

sapiens revue

„Die alten Kaiser besetzten das öffentliche Wort negativ.  Die Neuen machen das auch. Mit Macht. Der Mensch soll tunlichst seine sterbliche ...