Montag, 28. Februar 2011

dem kind die welt

"Manchmal wurde von mir auch verlangt, dass ich Gegenstände benenne, die mir die Verwandten direkt vor die Augen hielten. Dabei gingen meine Familie und Anverwandten wohl von der Annahme aus, dass, sobald man dem Kinde die Welt vor den Kopf hält, es auch erkennen kann, um was es sich hier handelt. Ich zumindest kann mich an einen Vorfall erinnern, dass meine kleine Schwester Marie, nachdem sie ein Bild gemalt hatte, es unserer Großmutter Sophie zeigte. Irgendwie kam dieses Bild in mein Kinderbett. Vielleicht weil unsere Großmutter schon alt war, leise zitterte und sie sich wie ein Astronaut nur noch mit fremder Hilfe im Sitzen anziehen konnte. 

Doch eigentlich sagt man ja alten Menschen nach, das, wenn sie alt werden, sie wieder ganz jung werden, so wie Kinder. Na ja, jedenfalls legte sie dieses Bild in mein Bettchen. Sie werden es jetzt ahnen, ja, sie legte es irgendwie ab, man sagt auch verwirrt beiseite. Dabei hatte ich wirklich großes Glück. Denn durch diese junge Verwirrtheit meiner Großmutter Sophie stand mir schon früh eine Sternstunde ins Haus. Sie legte dieses Bild zu meinen Füssen. Eine halbe Ewigkeit konnte ich mir mit meinen nackten Füßchen dieses Bild betrachten. Es war vormittags, ich war gefüttert und durfte danach bei offenem Fenster immer eine lange Zeit bis zur Mittagsstunde ruhen. Nie wäre ich in diesen Tagen meines Daseins auf die Ideen gekommen, das Bild mit den Händen zu greifen und es mir vor den Kopf zu halten. Nie. Niemals. Das kam erst viel später. Ach ja, meine Schwester kam nach Stunden heulend in das Kinderzimmer. Den Grund ihrer Tränen habe ich nie herausbekommen.

Als sie schließlich an mein Bettchen trat und über die Wiegenkante schaute, erfüllte sie eine Art übernatürliches Lächeln. Zu meiner Verwunderung war sie nicht sonderlich erschreckt, sah sie doch ihr kleines Bild zu meinen Füßen, ich hatte es tausendfach mit meinen beiden Füßchen gefaltet und geknittert. Sie schaute mich verwundert, ja eigentlich selig an, nahm das Bild und lief damit hüpfend aus dem Zimmer. Sie können es mir glauben, jede Zelle meines Körpers erinnert das seidene Rascheln des Blattes, den schimmernden Zerfall des liebenden Kolorits, so wie am ersten Tag. Die Physik meines Lebens erinnert noch heute verzückt die Funken, mit denen ich in einem brillanten Feuerwerk aus tausend Falten und abertausenden Knicks der Zeichnung durch meine Füßchen weit über mich hinaus nach oben hin weg sprang." 

   ©   by  J. G: aus: Licht den Tagen...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

würde

Über Jahre in einem Wiener Labor. Primaten. Kein Tageslicht. HIV-Experimenten ausgesetzt. Nach ihrem Laborleben kommen sie zuerst in einen a...