„Fünfmal erlosch, um fünfmal wieder aufzublinken“
aus der Fahrt des Odysseus
„Mein guter Freund aus dem Mittelgebirge rief heute Morgen an.
Er machte mich auf einen Artikel von Tilmann Jens in der FAZ
aufmerksam. Walter Jens, sein Vater, leidet an Demenz.
Nun war Walter Jens, wie so viele Bürger des NS-Staates, in der
Partei. Doch wie so viele habe er den Akt des Eintritts in die Partei einfach
„vergessen“.
Ich kann das verstehen.
Ich habe auch viele Sachen vergessen, Dinge an die ich mich nicht
mehr erinnern kann. Zum Beispiel kann ich mich nicht mehr an den ersten
Dienstagabend im Juni 1958 erinnern, an das Muster der Schürze meiner Mutter,
ob mein Vater seinen Schlips schon geöffnet hatte oder nicht, ob meine ältere
Schwester mit am Tisch saß und ob mein rothaariger Bruder unter dem Küchentisch
auf seinen Knien ein Sigurdheft las.
Doch es gibt Schlüsselereignisse in einem Lebenslauf, Ereignisse,
die man niemals vergisst, auch nach 100 Jahren und 1000 Leben nicht.
So kann ich mich noch genau an das blonde Haar meine Tochter
erinnern. Unser Auto hatte auf der Fahrt nach Italien einen Motorschaden, das
Fahrzeug abgeschleppt und wir fuhren mit einem kleinen Fiat an den Gardasee.
Sie, auf dem Rücksitz, ich, vorne am Steuer.
Völlig aufgelöst von dem Ereignis saß ich am Steuer des kleinen
Wagens und steuerte den Fiat unter dem blauen Himmel dahin. Sie schlief hinten
auf den Rücksitz. Immer wieder musste ich mich nach ihr umdrehen, ein Bild, das
ich nie vergessen werde, denn sie lag wie ein Engel dort, ihre blonden Haare in
einem Fresko nass in die Stirn gemalt.
Nun Ort und Zeit wie das Unterschreiben eines Parteieintritts mit
19 Jahren, zumal unter sehr schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen, wie in
den Jahren des Zusammenbruchs der NS-Herrschaft, kann in den Wirren der Zeit
durchaus im Gedächtnis eines Einzelnen verloren gehen. Schließlich war das Ende
vorhersehbar und Millionen Menschen in Europa achteten in den letzten Tagen des
„1000jährigen Reiches“ darauf, dass sie mit heiler Haut davon kamen.
Nun war aber der NS-Parteieintritt in mehrfacher Hinsicht kein
unbedeutendes Ereignis, wie z.B. der Kauf von Zucker und Milch an einem Freitag
im März in einem Kaufmannsladen.
Kriege gab es immer, Verbrechen gab es immer, Morde gab es immer.
Das ist nicht neues in der Vita des Sapiens. Das alltägliches
Betriebssystem des Überlebens.
Ein Partei jedoch, die die Herrschaft eines „1000jährigen Reiches“
ausruft, eine Partei, die die Vielfalt von Lebensentwürfen in den Gleichschritt
einer Volksgemeinschaft lenkt und gewaltsam militarisiert, eine Partei, die
einen Weltkrieg vom Zaun bricht bei dem mehr als 60 Millionen Tote zu beklagen
sind, eine Partei, die Fabriken baut zur Vernichtung von Millionen Menschen
jüdischen Glaubens, eine Partei, die für die Züchtung der reinen deutschen
Rasse die Gleichschaltung der Gesellschaft mit Bleistift und Folter, Mord
betreibt, eine Partei, die zum totalen Krieg aufruft, eine Partei, die
Massenmord betreibt, lässt sich so etwas nicht ahnen, lässt sich solch ein
beißender Gestank nicht meilenweit riechen, lässt sich solches Leid nicht in den
Gesichtern erkennen, und kann man den Schriftzug auf braunem Papier bei seinem
Eintritt in eine solche Partei vergessen?
Und wenn?
Spätestens nach dem Ende der Schreckensherrschaft, nach dem
Erwachen, egal wie, ob nach einem enttäuschten oder befreiten Erwachen, in dem
historischen Lichtkegel der Aufarbeitung der Verbrechensherrschaft, hätte der
Parteieintritt erinnert sein müssen und hätte erleichtert und von der Qual befreit
eingeworfen sein können in den Weg der demokratischen Gestaltung der Gesellschaft.
Nun es scheint ein Charakterzug des Homo Sapiens zu sein, dass er
sich weiß Gott nicht erinnert oder gar erinnert werden will an eine irgendwie
geartete Beteiligung an Verbrechen.
Es ist doch merkwürdig, die Spezies des Sapiens organisiert
ihr eigenes Überleben heute, nach gut über einer Million Jahre
Entwicklungsgeschichte, immer noch privat wie staatlich mit dem Recht des
Stärkeren, immer noch mit Gewalt, Krieg und Mord und ein bisschen Schönreden.
Will man irgendjemand, egal wen, ob er in Baby Yar hunderte von
Menschen erschossen hat, am Schreibtisch Listen für die Transporte nach
Auschwitz ausgefüllt hat, oder ob er, wie Walter Jens vermutet, einem
„Karteivorgang“ zum Opfer gefallen sei, keiner kann oder will sich erinnern,
noch fühlt sich irgend einer schuldig, oder gar aufgerufen seine Beteiligung im
Nachhinein aufzuklären.
Immerhin gibt es so was wie ein Gewissen.
Wo ist es?
Aktuell sei hier einzufügen die staatlichen Verlautbarungen der
Dynastie des roten Kaisers „Partei“ in China zu den Autonomiebestrebungen in
Tibet.
Seit Jahren bemüht sich das Oberhaupt des tibetischen Volkes in
seinen Schriften und Reden um Gewaltverzicht, der diplomatischen Aufhebung der
Gewaltspirale und der Hinwendung zu einem Dialog der Kulturen. Der chinesische
Staatschef Wen Jiabao verlangt den Meldungen nach von dem in der ganzen Welt
wegen seines versöhnlichen Auftretens angesehene Mönch, „er müsse der Gewalt
abschwören“. Der tibetische Kommunistenchef dreht im vorauseilenden Gehorsam
den Spieß um und bezichtigt den Lama, er sei „ein Wolf im buddhistischen
Mönchsgewand, ein böser Geist mit menschlichem Antlitz und im Herzen eine
Bestie“.
Eine seltsame Aufarbeitung von Entwicklungsgeschichte, so als
wolle man das unbewusste Betriebsmuster des Sapiens, einem System der permanenten
Gewaltanwendung an Leib und Seele, so als wolle man im Falle Tibets mit der politischen
Macht der Gewehrläufe und im medialen Gleichschritt von Umkehrung der Bilder
und Buchstaben die Verletzung und Unterdrückung der Menschenrechte und die
politische Ordnung der systematischen Gewaltanwendung auf Jahrhunderte aufrechterhalten.
Sind die Olympischen Spiele im Sommer 2008 vorbei, so kann der
chinesische Soldat in Tibet sich des gleichen Mechanismus wie Walter Jens und
seinen vergesslichen Zeitgenossen bedienen und das gewaltsame Ereignis
versuchen mit einem unschuldigen „nicht erinnern können“ rechtfertigungstauglich
zu machen.
Das unbewusste Betriebssystem des Sapiens begeht permanent
Verbrechen gegen die Menschlichkeit, mit Vergewaltigung, Folter, Mord, Krieg,
jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde auf diesem Planeten. In
seiner Rechtfertigung gibt die vom eigenen Vorteil im Überlebenskampf mit Angst
umnachtete Spezies vor nie wirklich daran beteiligt gewesen zu sein, so als
käme sie von Schuld entbunden davon, völlig unbeteiligt in dem was gelebt,
geschrieben oder getan wurde auf der braunen Krume, so als gäbe es die
Verbrechen nicht oder als letzter Rettungsanker, oft kaltschnäuzig vorgetragen,
so als hätte die ruchlose Tat heldenhaft zur Rettung des Friedens und Menschwerdung beigetragen.
Die schon zu lange dauernde Historie des Rechts des Stärkeren,
geschrieben in den Buchstaben von Mord und Totschlag des „Schuldigen am
Ganzen“, trägt in seiner Permanenz und denkbeschlossenen Unheilbarkeit,
heutigen Tags besonders mit der medialen Wucht, in einer himmelsschreienden Art
zur öffentlichen Debatte um Gewissenserleichterung bei.
Hätte sich Walter Jens an den Karteivorgang nach 45 gewissenhafter
erinnert, statt sich wie fast alle in den raunenden Schutzraum von
„Verbrechen-Verdrängen-Vergessen“ zu flüchten, dann sähe man im hellen Schliff
der Einkehr, das Leben mit jeder Geste und mit seinem unbegrenzten Vermögen an Leib
und Seele seit Jahrtausenden ersucht, den hinfälligen Ast am Stammbaum der
Evolution zu verlassen, um mit einem Beinchen den neuen Spross zu betreten. "
J.G:
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