"Mit dicker Backe fuhr ich ins Dorf der Stadt, um sie zu besuchen.
Meinem Klingeln an der unteren Haustür wurde nicht nachgegeben, doch ich traf sie im Weggehen auf dem angrenzenden Fußgängerüberweg.
Gemeinsam gingen wir dann in ihre Wohnung, machten uns einen Cafe und redeten entspannt um den Tag herum.
Gegen halb drei begleitete ich sie in die Strahlenabteilung der Klinik.
Dort, im zweiten Untergeschoß, bekommt sie jetzt für 7 Wochen jeden Werktag für 90 Sekunden Radioaktivität auf die rechte Brust gepulst.
Diese Bestrahlung soll den Nochrest von Krebszellen aus dem Organismus hinter den Anfang von allem, ins Nichts verjagen.
Aus ihren Beschreibungen hatte ich dieses Untergeschoß düsterer aufgenommen. Es war es aber nicht, zwar ohne Tageslicht, jedoch wie kräftige Flügelschläge, permanent Tür auf, Tür zu.
Patienten im medizinischen Rollstuhl des Hauses rein, Angestellte mit Unterlagen in der Hand raus.
Hallo und guten Tag, hinsetzen, warten wie überall.
Der offene Warteraum des Flures in Glas, eingerahmt in Aluminiumschienen, die Wände im Anstrich lächelnd in Neuweiß.
Ich saß da, schaute mich um, schloss ein paar mal auch die Augen, hörte dreimal die Aufrufe "Herr B., Kabine 2 oder 3“, "Frau K., Kabine 5 oder 6", "Frau H, Kabine 4 oder 5“.
.
Im radioaktiven Strahlungskeller der Zivilisation fühlte ich mich zu meiner Überraschung nicht unwohl.
Im Gesicht einer jungen Frau, die ihr bares Haupt unter einer braunen Mütze verbarg, konnte ich Mündliches lesen.
Sie nahm die ganze Zeit mit einem ziemlich ernsten, aber nicht unfreundlichen Blick mit der linken Hand schreibend Eintragungen in ihr kleines Tagebüchlein vor, konzentriert und gewissenhaft.
Einmal nur in der ganzen Warterei, kurz bevor sie aufgerufen wurde "Frau S., in Kabine 1 oder 2 bitte", blickte sie auf und kreuzte wie der Flügelschlag eines Kolibris lächelnd meinen Blick. Vielleicht hatte sie ja mich gerade als ewiges Wort in ihr Tagebuch eingetragen, und das kurze Aufschauen in die Weite des Strahlungsraumes im zweiten Untergeschoss war die einigende Versicherung des Lebens, dass das Erlebte kein Ende hat und tatsächlich wahr ist, denn ich habe es selbst gesehen."
J. G:
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen