Dienstag, 12. Oktober 2010

Vorletzter Akt



"In dieser Jahrtausende währenden Vorstellung des Sapiens kommt es im vorletzten Akt der Aufführung zur Bloßstellung: der Feind ist der Mensch.

Menschenfresser entfesseln noch einmal ihre marodierenden Eliten, schicken sie zusammen mit Drohnen und Kindersoldaten in den Kampf gegen jenen Feind.

Mit der eisernen Herrschaft heilloser Befehle, der selbstmörderischen Maschine aus Elend, Versklavung, Verstümmelung, Vergewaltigung und Krieg schmiedet die hinfällige Spezies Sapiens unbeirrt die feudale Münze morbiden Gewinns.

Paradiert von Standarten, Glaspalästen, Börsenwerten, Höllenhunden, Wachstumsprognosen und Weltreichen inszenieren sie im Schlussakt einen grandiosen Einmarsch.

Kein Mensch jubelt ihnen zu."

Johan van der Leeuwen

Sonntag, 10. Oktober 2010

Arabesque

„Zur Nacht hin lag ich noch lange wach und mein kleiner Wanderzirkus von Gedanken gab noch eine bezaubernde Vorstellung.

Eine Ballerina tanzte kurz vor dem Einsinken in den Schlaf am frühen Morgen mit rosa Schühchen und einem hellweißen Röckchen einen hinreißenden Tanz.

Lange silberne und goldene Fäden waren an ihren ganzen Körper gebunden und im Drehen wanden sich die Fäden flirrend um ihren Leib. Und sie tanzte und tanzte mich auf den rosa Spitzen ihrer Füßchen behutsam in einen wohligen Schlaf.

Was ich noch in den Schlummer mitnahm war, dass der Tanz und die goldenen und silbernen Fäden sie zwar umbanden, ihr eine feste Form gaben, jedoch die äußere Gestalt ein Antlitz freigab, das mir einen widerstandsfreien Zugang nach Innen ermöglichte und ich einen schemenhaften Blick auf das erhaschen konnte, was seit Anbeginn das Selbst genannt wird.

Heute Morgen nun, bei Tageslicht, im Zustand des groben Zuschnitts des Erlebten, vermag ich zu deuten, dass der wiegende und springende Tanz liebend wahr und die Bänder die Vielfalt der Bindungen von Leben zur der einen wie zur anderen Seite darstellten.

Die goldenen und sibernen Bänder sie jedoch im Tanz nicht einschnürten und fesselten, sondern sie mit jeder Bewegung und Drehung einen schimmernden Kokon webte, der hellauf ein Blick auf das freigab, was kommen wird.“

J.G:

Montag, 4. Oktober 2010

hochzeit

„Rezeption Hotel Park“, sagte er mit dem erhebenden Wohlklang eines First Class Hotels.

Durch die hoteleigene Telefonleitung fächelte eine sonore Stimme kühle Zuvorkommenheit an ihren bloßen Körper. Sie nahm den Hörer von der linken Hand in die rechte, hob ihn an das von ihren nassen Haaren verdeckte rechte Ohr.

„Hören sie, hier ist Zimmer 507, Muriel Glass, sind sie bitte so liebenswürdig und schauen einmal in unserem Postfach nach, ob ein Brief für uns angekommen ist?“

„Einen Augenblick Madame, ja, ein Schreiben liegt in ihrem Postfach. Soll ich ihnen den Brief durch einen Hausangestellten ins Zimmer bringen lassen?“

Achtlos kramte sie mit ihrer linken Hand in dem blauen Bademantel und entnahm einen kleinen Zettel, den sie zerknüllt beließ und wie eine Murmel während des Gesprächs in der geschlossenen Hand verbarg.

„Nein, nein, das ist nicht nötig, ich werde ihn selbst abholen.“

„Madame, haben sie sonst noch einen Wunsch“, pointierte der Portier in die weiße Muschel, zupfte dabei mit den Fingerspitzen seiner rechten Hand eine breite schwarze Fliege unter dem weißen Hemdkragen gerade und sah dabei einer Frau zu, die gegenüber der Rezeption ihrem Hündchen in den Fahrstuhl half.

„Ach ja, sagen sie, können sie den Brief aus dem Fach 507 nehmen und einmal auf der Rückseite des Couverts nachschauen welchen Absender das Schreiben hat.“ Den Zettel hatte sie währenddessen aus dem feingliedrigen Verlies ihrer linken Hand freigegeben und auf dem rosa Überwurf mit der linken glatt gestrichen, nahm ihn auf und las still die mit grüner Tinte aufgetragenen Worte: „O Baum, der das Entzücken bewahrt, öffne dich wie der Leib der ….“ Das letzte Wort konnte sie nicht mehr entziffern, es war durch einen Wassertropfen gänzlich zu einem kleinen, grünen Smaragdsee auf der Landkarte des Alphabets verwischt.

„Madame, der Brief kommt aus Schottland, von einem Mr. McIron. Soll ich ihnen doch nicht lieber den Brief auf´s Zimmer bringen lassen.“

„Sie können den Brief wieder in das Fach legen, danke, ich hole ihn in der nächsten Stunde ab.“

Sie nahm den blauen Bademantel auf, legte ihn sich um die Schultern, erhob sich aus den schlafenden Falten des Überwurfs, ging zur Anrichte und legte den Hörer auf den Telefonapparate, der wie ein großer, weißer Elefant auf der Anrichte thronte und in seinem Elfenbein das Gedächtnis der toten Welt bewahrte.

Mit dem Rücken angelehnt stand sie neben der Anrichte und sah im Hotelzimmer 507 über den Schlaf des Geliebten hinaus ins Freie. Mit der linken Hand streifte sie ihre noch nassen Haare über den Kopf nach hinten und nahm einen tiefen Atemzug.

Auf Zehenspitzen ging sie hinüber in das andere Zimmer, das rechts neben dem Badezimmer lag. Bevor sie den in feinen Goldlinien eingefassten blutroten Kleiderschrank öffnete, sah sie in dem glänzenden Lack der beiden Flügeltüren den Geliebten selig in Flammen ruhen.

Sie öffnete die Flügeltüren und entnahm aus den oberen Fächern einen weißen Slip und ein azurblau gemustertes Top mit dünnen silbernen Trägern, die einen feinen kupfernen Faden in sich trugen.

„Muriel, bist du im Bad?“

„Seymour, ein Brief aus Schottland liegt in unserem Fach an der Rezeption. Ich stehe vor dem Kleiderschrank, ziehe mich jetzt an und gehe dann zum Portier und lasse mir von ihm den Brief aushändigen.“

„Was meinst du, ob er mitkommt nach Südamerika?“

Sie nahm eine Jeans aus dem roten Schrank, hängte den goldglänzenden Bügel wieder auf die Querstange im Schrank, lies die beiden Flügeltüren leise in ihr magnetisches Schloss fallen und ging mit der Jeans in der Hand an Seymour Bett.

„Sag Seymour, auf dem kleinen Zettel, den ich in meinem Bademantel gefunden habe, da fehlt ein Wort am Ende des Satzes, ein Wassertropfen hat das Wort aufgelöst, wie heißt das…..“

„Ich hatte gestern versucht mich an einen Satz aus dem Rig Veda zu erinnern, in dem die Sänger der Worte eine siegreiche Glückseligkeit besingen, eine mit offenen Augen. Nur ein kleiner Ausschnitt, den ganzen Text konnte ich nicht mehr vollständig erinnern. Eines der Wörter, ich glaube, es hatte so etwas wie den Klang von brauner Erde, in der das goldene Kind wächst. Weder das Wort Erde, noch das Kind fügte sich in die Zeile. Stattdessen wählte ich das Wort Mutter und schrieb es auf den karierten Zettel.“

Sie stand am Fußende des Bettes, hatte die Jeans übergestreift und sah weiße Wölkchen am Hotelfenster vorbeiziehen. „Willst du ihn wiederhaben?“

„Der ist unbezahlbar. Muriel, bitte, leg ihn in die kleine Schatzkiste, als Erinnerung an unsere Hochzeitsreise.“

Mit beiden Händen rieb er sich wie bei der Morgenwäsche sein Gesicht wach, streckte seine Arme in den klimatisierten Luftraum des Hotelzimmers, richtete sich am Kopfende des Bettes auf und sah sie an.

„Muriel, wie schön du bist mit nassen Haaren.“

„Es wird ein sonnenwarmer Tag, Seymour, gehen wir zum Meer?“

„Wir gehen zum Meer.“



  ©   by  J. G:

sapiens revue

„Die alten Kaiser besetzten das öffentliche Wort negativ.  Die Neuen machen das auch. Mit Macht. Der Mensch soll tunlichst seine sterbliche ...