Liebster Seymour,
bei allen den schönen Bildern von deiner Reise lebt in mir ein Morgen von Sehnsucht nach Sichtweite und leiblicher Hingabe.
Seymour, die Freude, einen Brief aus der Ferne von dir in den Händen zu halten, hat mich bewogen dir eine dieser berühmten gewichtslosen Antworten zukommen lassen, die du so liebst. Bei aller Sorge, die ich mir gemacht habe, schätze ich den langen Brief von dir, den ich endlich in den Händen halte. Die zwei Aufzeichnungen von van der Leeuwen, die du mir zu deiner Post beigefügt hattest, legte ich erst einmal zur Seite, las sie erst Tage später.
Die kleine Zeile, die du an den Rand des Briefes geschrieben hattest mit einem grünen Stift, dieses „vielleicht sowas wie Bestäubung“, liegt neben mir an meinem Bett und ich lese sie gerne bei Tagesbeginn.
Die Seiten deines Briefes, Seymour, habe ich gelesen in einem einzigen Atemzug. Meine Hände, Seymour, hielt ich vor dem Lesen ein paar Minuten still über deinen Brief, so wie ich in frühen Tagen meine Kinderhände eine Weile in froher Erwartung über die Süße der Bonbons schweben lies. Die Zeilen konnte ich nicht lesen, Seymour, ich konnte nur mit Tränen die Silben auflesen. Immer wieder versuchte ich zu verstehen, was du durchgemacht und empfunden hast. Die Buchstaben verschwanden in einem Gefühl aus grünem Feuer, das aus dem weißen Grund deines Briefes mich in Flammen setzte. Die Schilderungen deiner Erfahrungen erinnerten mich an den Autor Hans Leisegang, der sich an die Übersetzung eines Fragmentes wagte. Dieses Bruchstück, eine Allegorie auf das okeanische Kreisen um den einen Urkontinent, öffnet eine Grundierung des Lebens, so wie es Da Vinci anmahnte. Man müsse, wolle man ein schönes Bild mit leuchtenden Farben malen, so braucht es zuvorderst eine reine, weiße Grundierung der Leinwand.
Natürlich war ich sehr beunruhigt, als ich deinen Brief von den Ereignissen in dem Dorf in den Händen hielt, keinesfalls nur entzückt, lieber Seymour. Abgelegen von jeder Zivilisation, von Malaria infiziert, das hat mich doch sehr in Sorge versetzt. Froh bin ich, dass du auf dem Weg der Besserung bist.
Nur einmal las ich deinen Brief am Morgen, dann legte ich ihn auf meinen Tisch für den Abend, machte mich zurecht und fuhr an diesem Tag in die Bibliothek. Dort, abgeschirmt vom Lärm der Welt, schaut, liest und denkt man anders, als im eiligen Strom der Wünsche, Begierden und Sehnsüchte. Ungehörtes wird einem da zugeflüstert, nicht nur die Worte des Liebsten erinnert man dort klarer in einer ungeborenen Absicht, nein, die ganz Welt fängt leise an zu flüstern.
Am Nachmittag saß ich dann wieder neben dem Nordfenster, du weißt, mein Lieblingsplatz. Schwarze Tinten probiere ich im Moment auf verschiedenen Materialen aus. Das dürfte doch auch dich mit deiner Fotografie interessieren, Seymour. Schwarz verschlingt nicht nur Licht, wie das schwarze Loch Sterne, sondern ist für das Licht da.
Ach, Seymour, erst spät am Abend, nachdem ich alle Farbtuben geschlossen hatte, die Leinwand nur noch mit Lampen beschienen war, nahm ich deinen Brief ein zweites Mal in die Hand und las:
„im aufgang der sonnen / wirf mich zu den rosen / ...“
Mein Liebster, zu den ersten Fotografien, die du beileget hattest, will ich sagen, das Bild mit der Drei auf der Rückseite, das Bild mit der halben Treppe, dem aufragenden Felsen dahinter und dem steil in die Tiefe stürzenden Himmel, das Bild führt den Betrachter unmerklich in einen freien, sehr offenen Raum. Das Bild erinnert mich an den Schweizer Gebser und seine Ausführungen zu der A-Perspektive.
Auf der Treppe dann, rechts unten auf der fünften Stufe, vielleicht hat es ein Reisender achtlos fallen lassen, vielleicht handelt es sich auch um etwas sehr Bedeutsames. Vielleicht solltest du es noch einmal vergrößern, wenn du wieder hier bist. In dem Augenblick, wo du den Auslöser betätigt hattest, ist ein weißes Etwas zu sehen, etwas, was da normal, in dieser Umgebung, so nehme ich wohl an, nicht hingehört. Es scheint so, dass dieses Etwas noch nicht die Steinstufen berührt, noch im Fallen sich befindet, als du den Auslöser drücktest. Ein belangloser Zettel, vielleicht ein Billett, oder eine wichtige Notiz. Im nächsten Moment könnte dieses Etwas, ohne das es die Steinstufen wirklich berührt, schon wieder verschwunden sein, von einem Windhauch weggeweht, oder von einer feuchten Schuhsohle mitgenommen. Seymour, es ist ein wunderbares Bild und gibt diesem Ort einer verschwundenen Kultur Größe und Gegenwart.
Nach meiner Schulausbildung, kurz vor der Aufnahme des Studiums der Malerei, besuchte ich eine Ausstellung von Max Ernst, es war eine kleine Ausstellung, ich erinnere mich noch sehr genau. Eine unscheinbare Collage, ich suche sie seit Jahren vergeblich, sie hing in einem kleinen Bilderrahmen an einer weißen Wand, genau in der Höhe meiner Körpergröße, ich musste mich noch nicht einmal auf Zehenspitzen stellen, musste mich aber auch nicht beugen. Es passte alles. Übrigens, das Bild ohne Glas, das hätte dir gefallen. An diesem Tag des Besuches des Museums hatte ich keine hochhackigen Schuhe an, war schon spät dran an diesem Morgen, um die Schuhe bei meiner Unordnung im Schuhschrank zu finden. So fand ich im Handgemenge meine alten Turnschuhe, in die schlupfte ich schnell rein. Alles genau richtig und falsch an diesem Tag.
Beiläufig ging ich auf das Bild zu und blieb eine Lineallänge vor ihm stehen. Alles andere um mich herum war plötzlich verschwunden. Ich war allein. In was für einen Abgrund sah ich da, was für eine ungeheure seelische Tiefe auf einem kleinen Blatt Zeichenpapier. Seymour, was für ein uraltes Gefühl von Welt auf einer dünnen Fläche Papier tat sich da für mich auf. Direkt unter unseren Füßen, Seymour, eine ungeheure Ausdehnung von Hiersein.
Ich habe mich an deinen Ratschlag gehalten, Seymour, und die Fotos von dir mehrfach in ihrem zu betrachtenden Winkel verändert. Es bedarf nur ein sehr kleiner Wechsel in der Haltung des Körpers, manchmal sind es nur Millimeter, die alles verändern. Wenn man ein bisschen Glück hat, kann man etwas sehr, sehr Seltenes dabei entdecken. Ein Reiz auf der Oberfläche der Sinne, der sich in dem Lehm unserer Gedanken vorerst nur als tröstender Abdruck lesen lässt. Es handelt sich dabei um einen, so wie ich es ausdrücke, seelischen Wink des Lichtfalls, ein den sterblichen Körper aufhebender Fall von Licht. Den Betrachter verschiebt es für einen Sekundenbruchteil in einen völlig anderen Zustand. Dieses Befinden ist mit keinem Gedanken festzuhalten, ein für Gedanken völlig unfassbarer Aggregatzustand. Der hat mit den Zwillingen Leben und Tod wenig zu tun. Dass es so ein unbeweisbares Empfinden überhaupt gibt, Seymour, und man danach ganz normal weiter atmet, das ist sehr bemächtigend.
In dem Zueinander von Punkt, Linie und Strich auf einigen Fotos von dir, bist du mit deinem Objektiv sehr nahe in einem solch aufschlussreichen Einfallwinkel. Nicht der Gegenstand, sondern das Licht winkt den Betrachter hinein in das Motiv, so wie ein guter Freund, winkt ihn heran, sagt, komm näher, schau doch, komm, noch einen halben Schritt zu Seite. Das einfallende Licht auf den Fotos erscheint mir dabei wie die Singweise aus einem verschwundenen Reich, das der Melodie von Eingeborenen gleicht, du erinnerst dich sicher an diese unglaubliche Hymne aus nur zwei Tönen. Auf unserer gemeinsamen Reise in Papua-Neuguinea haben wir das in den Urwäldern hören können.
Ein Wort Paul Celans ist mir in den Sinn gekommen, Seymour. Wer auf dem Kopf steht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich. Allerdings weiß ich nicht genau, ob ich richtig zitiert habe. Heißt es nicht Urgrund?
Seymour, hier im feinen Sand der Küste vermisst dich mein Palast sehr. Alle Lettern des unvermögenden Verstandes, die die letzten kalten Tage im Frühling einzudunkeln versuchten, habe ich verlassen. Alle infertilen Bücher habe ich im Hause im Büchergestell asketisch verkeilt, damit sie nicht in die Versuchung kommen, mit List und Tücke der Kopfarbeit, sich selbst aufzuschlagen und damit eine analytische Treibjagd veranstalten auf die Liebenden.
Seymour, es ist schön für mich die Zeilen und die Bilder von dir in meinen Händen zu halten. Ich hoffe sehr, dass mich in diesen Tagen am Meer noch ein weiterer Brief von dir erreicht. Ich hoffe, es geht dir wieder gut. Wie geht es van der Leeuwen?
Tage am Meer, liebster Seymour, du liebst sie und ich liebe sie so sehr. In der Früh, noch vor Sonnenaufgang, stehe ich auf, gehe hinunter an den Strand. Ich schwimme jeden Morgen zur roten Boje hinaus, du wärest erfreut, Seymour, ich kann es selbst kaum glauben, doch ich bade zu dieser frühen Stunde oft in einem Taufbecken aus flüssiger Bronze. Es ist die Lichtsammlung, Seymour, die Morgendämmerung, die mich so sehr in ihren Bann zieht. Zurück an Land sitze ich dann noch eine Weile mit deinem blauen Bademantel um den Leib im Sand, sehe aufs Meer und erwarte sehnlichst den ersten Goldwurf des Himmels.
Ein Wunder, Seymour, es ist ein immerwährendes Wunder. Die Herden des Himmels entsteigen jedes Mal unberührt den Wassern und küssen hingeworfen jeden Krümel dieser fruchtbaren Erde. Das Schauspiel der Hingabe der Liebenden ist so tiefgreifend, dass der Tod in diesem Augenblick nur eine blasse Erinnerung ist.
Tagsüber sitze ich manchmal stundenlang unter deinem gelben Sonnenschirm, blicke auf das absichtlose Treiben, mische meine Farben. Liegt mein Körper dann einmal faltenlos im Sand, das Dünengras und den Himmel über mir, dann sehe ich die schmalen Halme, wie sie vom seichten Wind bemächtigt Meer und Licht bejubeln.
Das Blau des Himmels, oh, es ist traumhaft, Seymour, so unglaublich mich wärmend schön, so klar, so schuldlos. Ein sehr fein gewebter, sandheller Schimmer liegt da als Seidentuch über dem Strand. Das in den frühen Stunden des Tages gesponnene Sonnenlicht erweckt mich mit jedem Herzschlag zu neuem Leben. Der Schein erinnert mich an das zartweiße Rosa der unbedeckten Körper, du erinnerst dich, es war unser erster Tag im Land der roten Sonne und der erste Morgen in den Gärten der alten Kaiserstadt Kyoto. Die hohe Liebe, Teuerster, die hohe Liebe, die seit jenem Tag die Gärten des Palastes unsichtbar bewässert, glänzt auch hier in jedem grünen Halm am Meer.
Sei umarmt. In Liebe, Deine Muriel
P.S. Die zwei Briefe von van der Leeuwen lese ich die kommenden Tage. Im Augenblick habe ich nicht die Ruhe dazu. In meinem nächsten Brief schreibe ich dir davon. Ach, so, bitte bringe mir doch einmal schwefelgelb gefärbten Stoff mit. Von der Ansicht dieser Farbe auf einem gewebten Tuch verspreche ich mir einiges. Vor allen Dingen, wie diese Farbe sich mit dem Schwarz der Tinte verträgt. Die Frauen auf den Märkten, ich kenne die Farbe von Fotos, sie tragen manchmal solche Umhänge mit dieser Farbe.
aus "Licht den Tagen ..." © by J. G: