"Großvater war kein Feigling.
Er war Polizist mit einem schwarzen Diensthund.
An einem Dienstag war alles zuviel.
Alles.
Der Krieg.
Die Transporte in den Osten.
Die Leichen,
die er manchmal vom Baum schneiden musste.
Sein entstelltes Gesicht.
Die zerstörte Heimat.
Alles war zu viel.
Reinrassig.
Nichts.
Keine Worte für das.
Die treue deutsche Seele,
der eigene Schäferhund, biss ihm eines Tages die Nase ab.
Einfach so.
Aus den Volksempfängern plärrte das Heil.
Eine Katastrophe für meinen Großvater.
Der Tierarzt, der den Diensthund später einschläferte,
sagte damals zu meiner Mutter, der schwarze Hund war voller Geschwüre.
Mein Großvater legte am Abend vorher
die Dienstwaffe nicht in seinen Nachtschrank,
sondern lies sie gegen die Dienstvorschrift an der Garderobe hängen.
Mein Vater sah sie noch, bevor er am Morgen mit dem Fahrrad ins Büro fuhr.
Nach dem Aufstehen beschloss mein Großvater sich das Leben zu nehmen.
Es war Sommer, Ende Juli, Kirschenzeit.
Seine Frau war an diesem Tag kurz in der Stadt, beim Metzger einkaufen.
Er setzte sich an den Küchentisch und schrieb einen Zettel.
Den ließ er auf dem blanken Küchentisch liegen.
Er ging an die Garderobe, nahm die Dienstpistole aus dem Gürtel
und mit unhörbaren Schritten durch die hintere Gartenpforte in den angrenzenden Wald.
Die Waldkolonie, ein städtisches Wäldchen unweit des Friedhofes.
Dort setzte er sich an einen Baum, entsicherte die Dienstwaffe,
nahm sie in die linke Hand und wartete.
Und wartete.
Eine halbe Stunde.
Eine Stunde.
Ewig lang.
Sein Sohn Friedrich fand am Mittag den Zettel in der Küche.
Laut rief er seine Frau zu sich.
Vorbei an den Häusern hetzten sie in den Wald.
Sie sah ihn zuerst.
Mein Vater rief: Adam, tue es nicht, tue es nicht.
Wortlos setzte mein Großvater die Waffe an seinen Schädel und drückte ab.
Mit einem Schuss in den Kopf
setze mein Großvater im Sommer 43
seinem Leben ein Ende.
Das Ende.
Er wollte es.
Und viele andere wollten es auch.
Es sollte Schluss sein mit dieser Höllenfahrt.
Ende. Aus.
Doch das gibt es nicht.
Jedenfalls nicht so.
Mein Vater warf sich nach dem Schuss aufs Rad.
Mein Vater war Sperrwerfer, Feldhandballer und Wasserballer.
In kürzester Zeit erreichte er die Polizeidienststelle meines Großvaters,
stürzte in das rote Backsteingebäude.
Meine Mutter kniete neben dem Baum,
den Kopf ihres Schwiegervaters im Schoß.
Tot im Wald.
An einem Dienstagnachmittag im dritten Reich.
Eine Woche später wurde mein Großvater begraben.
Was für Tränen im Traubenweg.
Jahrelang.
Mein Vater hat sich von diesem Schuss im Wald nie wirklich erholt.
6 Jahre später, im Sommer 1950, war meine Mutter erneut schwanger.
Am offenen Fenster im 1. Stock eines Bahnhofsgebäudes im Süden des Landes, unweit eines jüdischen Friedhofes in der Pfalz,
schaukelte bereits eine rote Kinderwiege.
Meine.
Jetzt hatten meine Eltern drei Königskinder.
Die eine 43 geboren, der Rotschopf 48 und dann noch ich, 50.
Vater, Mutter, eine Großmutter, drei Kinder und kein Hund.
Sophie und Friedrich wohnten jetzt in einem Bahnhof.
Personen- und Güterverkehr.
Die Gleise.
Beides.
Mein Lieblingsplatz in den Jahren auf dieser Erde.
Hoch oben in einem Kirschbaum direkt vor dem Bahnhofsgebäude.
Sommer und Kirschen.
Meine Kindheit.
Ein Gedicht."
© by J. G: